Mensch. Gesellschaft. Meer.

Naher Osten

Das Land der untergehenden Sonne

Erst durch das schwere Erdbeben anfangs Februar ist das türkisch-syrische Grenzgebiet wieder in den Fokus der Medien gerückt. Doch die Region wird seit mehr als zehn Jahren von einem Krieg zermürbt, der immer komplexer wird. Eine Analyse von Kurdistanexperte Thomas Schmidinger.

Durch türkische Bombardierung zerstörte Mar-Sawa-Kirche im christlich-assyrischen Dorf Tel Tawil. Foto: Thomas Schmidinger

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das historische Gebiet Kurdistan – das auch auf alten Landkarten unter diesem Namen verzeichnet ist – in vier Teile geteilt. Seither lebt die kurdische Bevölkerung als Minderheit in den vier Nationalstaaten Türkei, Syrien, Iran und Irak, wo sie Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt ist. Im Irak und in Syrien haben die Kurden autonome Verwaltungen aufgebaut. Doch seit dem Krieg in Syrien ist die Situation angespannter geworden, und das Vorgehen der Türkei gegen die Bevölkerung im türkisch-syrischen Grenzgebiet hat sich verschärft.

In der Autonomieregion in Nord- und Ostsyrien lebt kurdische, armenische sowie christlich-aramäische Bevölkerung, gegen die die Türkei seit 2012 einen Zermürbungskrieg führt. Im November letzten Jahres wurde die Offensive mit der «Operation Klauen-Schwert» noch intensiviert. Unmittelbar davon betroffen waren Menschen, die bereits vorher einen großen Teil ihrer Dörfer verloren hatten.

Die vertriebenen Menschen leben heute vorwiegend in Zeltlagern.

Die De-facto-Autonomie in Nord- und Ostsyrien ist entstanden, als sich die syrische Armee 2012 aus diesem Gebiet zurückgezogen hat. Sie umfasst drei Regionen: Afrin im Westen, Kobanê in der Mitte und die Cezire im Osten Nordsyriens, und wurde zunächst unter dem Namen Rojava (Westkurdistan oder «das Land der untergehenden Sonne») bekannt. Heute nennt sich die Autonomieregierung Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens, da mit dem Kampf gegen den Islamischen Staat ab 2015 auch arabische Gebiete dazukamen.

Als 2018 und 2019 Afrin und ein Grenzstreifen zwischen Kobanê und der Cezire durch die Türkei besetzt wurden, gingen verschiedene kurdische Gebiete verloren. Die Menschen, die durch diese Besetzungen vertrieben wurden, leben bis heute vorwiegend in Zeltlagern in Tal Rifaat oder in der Nähe von Hasaka, auf der syrischen Seite der Grenze. Seither stehen mehr arabisch- als kurdischsprachige Regionen unter der Verwaltung der Autonomen Administration Nord- und Ostsyriens.

Karte: Institut Kurde de Paris

 

Da die Autonomieverwaltung von Anfang an einen inklusiven und nicht ein nationalistischen Ansatz gewählt hatte, gelang es zwar relativ gut, die arabischsprachigen Gebiete zu integrieren und auch arabische Gruppen in die Verwaltung und das gemeinsame Militärbündnis – die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) – einzubeziehen. Nicht Teil dieses Bündnisses waren jedoch Parteien, die der kurdischen Regierungspartei im Nordirak nahestehen. Dort besteht seit den 90er Jahren unter dem Namen Autonome Region Kurdistan eine De-facto-Autonomie.

So leidet die Region nicht nur unter der Blockade und den Angriffen durch die Türkei. Auch die Grenze zu den kurdischen Nachbarn im Irak ist ein unsicheres Nadelöhr, das immer wieder geschlossen wird. Auf beiden Seiten stehen zwar kurdische Kräfte, doch ob Menschen und Waren den einzigen Grenzübergang bei Semalka-Faysh Khabur passieren dürfen, hängt immer wieder vom Verhältnis zwischen den beiden kurdischen Rivalen ab.

Dies verschärft die ohnehin schon angespannte ökonomische Lage in der Region. Wie der Rest Syriens ist auch Nord- und Ostsyrien von der grassierenden Inflation des syrischen Pfunds betroffen. Schon 2020 erreichte diese 139 Prozent, und auch letztes Jahr lag sie noch über 100 Prozent. Nahrungsmittel- und Treibstoffpreise steigen enorm, und während es einigen Kriegsgewinnern auch hier gelingt, reich zu werden, verarmt der Mittelstand zunehmend. Diese Tendenz ist nicht nur auf den Nordosten des Landes beschränkt, sondern gilt für ganz Syrien.

Immer mehr Menschen verkaufen ihre Immobilien und versuchen nach Europa zu kommen.

Im Nordosten Syriens kommt zu all dem noch die ständige Androhung türkischer Luftangriffe dazu. Bereits im ersten Halbjahr 2022 kam es immer wieder zu Drohnenangriffen und Artilleriebeschuss. Nicht nur durch die türkische Armee selbst, sondern auch durch deren Verbündete, verschiedene islamistische Milizen, die in den besetzten Regionen gemeinsam mit der türkischen Armee aktiv sind.

Diese Angriffe treffen nicht nur kurdische, sondern auch immer wieder christlich-assyrische Dörfer in der Umgebung von Tel Tamr. Im Mai 2022 wurde etwa das Dorf Tel Tawil, nur wenige hundert Meter von der Waffenstillstandslinie entfernt, massiv mit Granaten beschossen. Dabei wurden nicht nur mehrere Häuser zerstört, sondern auch die Mar-Sawa-Kirche schwer beschädigt. In dem Dorf, in dem seit 2019 ohnehin nur noch wenige Menschen leben, führte dieser Angriff zu einer weiteren Verunsicherung der Bevölkerung. Viele der Geflüchteten sind mittlerweile nach Europa gereist und werden vermutlich nie mehr in ihre Heimat zurückkehren.

Immer mehr Menschen aus der Region verkaufen ihre Immobilien und versuchen mit dem Geld Schlepper zu bezahlen, um irgendwie nach Europa zu kommen. Doch das kann sich nur die qualifizierte und gebildete Bevölkerung leisten. Die zurückbleibenden Menschen verlieren damit noch mehr Zugang zu medizinischer Versorgung oder zu Arbeitsplätzen. Damit ist mittelfristig die gesamte Region gefährdet. ♦


Thomas Schmidinger ist Politikwissenschaftler sowie Sozial- und Kulturanthropologe mit dem Schwerpunkt Kurdistan an der Universität Wien. Er hat mehrere Bücher zu Rojava und Kurdistan veröffentlicht. Zurzeit ist Schmidinger Gastprofessor an der University of Kurdistan Hawler in der Autonomieregion Kurdistan im Irak.

Dieser Text hat Ihnen gefallen?
Die Inhalte von Tentakel sind frei verfügbar. Vielen Dank, wenn Sie unsere Arbeit mit einem kleinen Beitrag unterstützen. Per Twint oder mit einem Klick auf den Button.

Jetzt Spenden