Mensch. Gesellschaft. Meer.

Serie «Recyclieren oder Resignieren» Teil 1

Ab in die Tüte 

In Bolivien gibt es kein offizielles Recycling-System. Wiederverwertung findet nur statt, wenn die Zivilgesellschaft die Initiative ergreift – und wenn Menschen durch finanzielle Not dazu gezwungen werden. Teil 1 der fünfteiligen Serie «Recyclieren oder Resignieren».

Foto: Joe Whalen

Als ich 2017 nach Bolivien zog, prophezeiten mir viele, ich würde einen Kulturschock erleben. Stattdessen traf mich ein Müllschock, und zwar schon in der ersten Woche – bei der Einrichtung meiner Wohnung. Dies ist in vielen Ländern Lateinamerikas ein etwas größeres Unterfangen, denn die Grundausstattung umfasst höchstens Lavabo und Dusche, wenn man Glück hat auch Einbauschränke. Kühlschrank, Herd und Waschmaschine dagegen müssen individuell angeschafft und installiert werden. Nach Hause transportiert werden die Geräte – wenn man kein Auto hat – ganz unkompliziert auf dem Dach eines Taxis. Genauso wie Möbel, Matratzen und Bettgestelle. Da für diese Transporte alles gut verpackt und gepolstert werden muss, fällt in den ersten Tagen eines Umzugs enorm viel Abfall an. Meine Einzimmerwohnung füllte sich schnell mit riesigen Kartons, Styroporteilen und großen Plastikhüllen. Also lauteten meine ersten dringlichen Fragen: Wohin mit dem Abfall? Gibt es eine Kartonsammlung? Wie funktioniert das mit der Müllabfuhr?

Meine Arbeitskollegin, die mir beim Umzug half, lachte nur. «In Bolivien musst du dir um den Müll keine Sorgen machen!» Und warf alles durcheinander in einen der Riesenkartons hinein – Plastik, Verpackungsmaterial, ein zerbrochenes Glas und die Mülltüte aus der Küche. «Und jetzt ab auf die Straße!» Ich spürte ein leichtes Verzweiflungsgefühl in mir aufsteigen. «Und Batterien? Petflaschen? Dosen?» No hay problema, kein Problem: Alles in dieselbe Tüte – aus den Augen, aus dem Sinn.

Müllberge und Plastikbäume

Aus dem Sinn, ja – aber nicht aus der Welt. Dies wurde mir ein paar Monate später bewusst, als ich die Gemeinde Cotoca besuchte, einen kleinen Vorort der Großstadt Santa Cruz mitten im bolivianischen Amazonasgebiet. Gemeinsam mit einer lokalen Organisation lancierte ich dort eine Kampagne zum Thema Mülltrennung und Recycling. Die Bestandesaufnahme war ziemlich ernüchternd: Die Müllkippe der 20’000-Einwohner-Gemeinde war ein einziger Plastikfriedhof. Tausende von kleinen, farbigen Mülltüten türmten sich zu Bergen auf, die in der Hitze flimmerten und knisterten. Kleinere und leichtere Tüten wurden vom Wind weggetragen und verfingen sich in den Bäumen und Büschen der Umgebung, die aussahen wie mit Fetzen bekleidete Gerippe.

Wie befürchtet, landete alles ungefiltert auf diesem übelriechenden Berg – Flaschen, Karton, Batterien und sogar Klopapier, denn in Bolivien wird dieses nicht hinuntergespült. Eine Gruppe von Müllsammlerinnen stocherte in den Tüten herum und sortierte Plastikflaschen und Dosen aus, die sie zum Recycling bei der Gemeinde ablieferten. «Den Rest sprayen wir mit einem Mittel ein, das den Gestank reduziert und Insekten fernhält, und werfen es in die Grube», erklärten sie. Doch da der Müll weder verbrannt noch abtransportiert wird, häuft er sich täglich mehr an.

Schritt 1 von 10

In Bolivien gibt es kein offizielles Recyclingsystem. Einige Gemeinden verfügen über Programme zur Förderung von Mülltrennung, doch insgesamt werden weniger als zehn Prozent der wiederverwertbaren Güter wie Karton, Plastik, Glas, Batterien und Dosen recycelt. Dies schätzt Andrei Abruzzese, Direktor der Stiftung Fundación PAP, die in Santa Cruz seit mehr als 15 Jahren mit Recyclerinnen und Recyclern zusammenarbeitet. Offizielle Zahlen liegen nicht vor, genauso wenig wie eine Agenda auf lokaler oder gar auf nationaler Ebene. Das wenige Recycling, das in Bolivien überhaupt betrieben wird, gründet auf der finanziellen Not von Menschen, die keine andere Einkommensquelle haben. Das Durchsuchen von Müllsäcken nach wiederverwertbaren Stoffen, die zu einem festgesetzten Kilopreis an Recyclingunternehmen verkauft werden können, gilt als eine der am wenigsten wünschenswerten Beschäftigungen in Großstädten wie La Paz, Santa Cruz oder Cochabamba. Auch weil sie nur wenig Geld einbringt.

«In Santa Cruz gibt es schätzungsweise 8000 Menschen, die sich dem Sammeln und Verkaufen von recycelbaren Materialen widmen», sagt Abruzzese. «Doch der Markt wächst beständig. Seit Anfang 2022 gibt es in Sucre und in Cochabamba sogar zwei Firmen, die Glas recyceln. Allerdings ist der Transport dorthin aufwändig und ein großer Kostenpunkt, so dass sich das Recycling nicht mehr lohnt.» Deshalb landet Glas, genauso wie Plastik oder Metallschrott, weiterhin meist auf der Müllkippe, wo es Böden und Gewässer vergiftet. «Nur vier Gemeinden in Bolivien haben Mülldeponien, in denen Vorkehrungen getroffen wurden, um die Umweltverschmutzung zu reduzieren», so Abruzzese. Zum Beispiel Geomembranen – dünne Kunststofffolien, die verhindern, dass Schadstoffe in den Boden gelangen.

Unternehmen können durch Mülltrennung Geld verdienen.

Nebst der Unterstützung der Recyclerinnen und Recycler führt die PAP-Stiftung auch Kampagnen in verschiedenen Quartieren durch, um die Menschen aufs Thema Mülltrennung zu sensibilisieren. Doch ohne ein systematisches Programm der Regierung kommt man damit nicht weit. «Es nützt nichts, wenn die Leute den Müll getrennt auf die Straße stellen, der Müllwagen aber alles mitnimmt, bevor ein Recyclingsammler vorbeikommt», erklärt Abruzzese. «Mir selber ist das unzählige Male passiert, und es ist einfach nur frustrierend.» Fixe Routen oder Abholzeiten gibt es nicht. Im Gegenteil: Die Recycler streiten sich um die lohnenswerteren Quartiere. «Funktionieren tut das Ganze eigentlich nur, wenn die Müllsammlungen von NGOs koordiniert werden. Wir gehen dann in der Nachbarschaft von Tür zu Tür, verteilen Sammelbeutel für die verschiedenen Wertstoffe und bitte die Leute, uns anzurufen, wenn sie gefüllt sind und wir sie abholen können. Aber das klappt leider nur teilweise – oft ist der Aufwand umsonst.»

Den Großteil des Abfalls produzieren jedoch nicht die Privathaushalte, sondern die großen Unternehmen. Und die haben entdeckt, dass sie durch Mülltrennung Geld verdienen können. «Vor der Pandemie haben viele Firmen mit uns zusammengearbeitet und unseren Recyclern Wertstoffe geschenkt. Dafür bekamen sie ein Umwelt-Siegel ausgestellt. Doch jetzt verkaufen sie lieber direkt an die Recycling-Firmen.» Die PAP-Stiftung hat jedoch in den letzten Jahren bemerkt, dass sich immer mehr junge Menschen als Recyclingsammlerinnen und -sammler betätigen und dabei kreativ werden. «Da es kein Programm und keine Regeln gibt, kann jeder machen, wie er will. Manche stellen sich zwei Tage lang an die gleiche Straßenecke und lassen laut Musik laufen, dazwischen machen sie Ansagen durch ein Megaphon, und die Leute aus den umliegenden Häusern bringen ihren Papier- oder Plastikabfall.» Insgesamt, so Abruzzese, befindet sich Bolivien in Sachen Recycling aber immer noch auf Schritt eins von zehn. ♦

Alle Teile der Serie «Recyclieren oder Resignieren» finden Sie hier.

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