Seit zwei Monaten protestiert die peruanische Bevölkerung und fordert Neuwahlen. Interimspräsidentin Dina Boluarte geht hart gegen die Demonstranten vor, inzwischen gibt es mindestens 60 Tote. Die heutige Extremsituation hat jedoch eine jahrzehntelange Vorgeschichte.

«Que se vayan todos» – alle sollen abfahren! Mit diesem Slogan protestiert die peruanische Bevölkerung seit dem 9. Dezember gegen die Regierung und das Parlament. Im Kreuzfeuer steht unter anderem Präsidentin Dina Boluarte. Die Proteste haben in den letzten Wochen an Heftigkeit zugenommen und sich im ganzen Land verbreitet. Hauptverkehrsachsen und Flughäfen sind blockiert, und es kommt immer wieder zu Sachschäden und Vandalismus. Es wurden Fabriken, Hotels und andere Gebäude in Brand gesetzt und Supermärkte geplündert.
Dina Boluarte, eine 60-jährige Rechtanwältin, ist die erste Frau, die in Peru das Amt des Staatsoberhaupts innehat. Allerdings wurde sie nicht gewählt, sondern rückte nach, da sie unter Vorgänger Pedro Castillo als Vizepräsidentin geamtet hatte. Boluarte ging von Anfang an hart gegen die Demonstrierenden vor. Es kam zu Straßenschlachten mit der Polizei, bei denen bisher mindestens 60 Menschen ums Leben kamen und über tausend verletzt wurden – darunter mehrere Minderjährige. Zum Beispiel ein 15-jähriger Teenager in der südperuanischen Stadt Juliaca, dem die Polizei bei einer Demonstration in den Kopf schoss. Kurz vor Weihnachten wurde ein nationaler Ausnahmezustand verhängt, in einigen Provinzen ist dieser bis heute gültig. Touristenattraktionen wie der Machu Picchu wurden geschlossen, viele Reisende verließen das Land.
Mehrere Ex-Präsidenten sitzen in Haft.
Doch wie kam es zu dieser krassen Situation im Andenstaat? Galt das Land doch seit den 90er Jahren als wahres Wirtschaftswunderland, und im Oktober 2020 wurde es vom Weltrat für Reisen und Tourismus (WTTC) mit dem Siegel «Safe Travels» ausgezeichnet. Nur wenige Wochen, bevor ein politisches Chaos ausbrach, bei dem sich in einer Woche drei verschiedene Staatspräsidenten die Klinke in die Hand gaben. Die heutige Situation kann nicht erklärt werden, ohne die Vorgeschichte der letzten Jahrzehnte zu verstehen.
Korruption gehört zum guten Ton
Dina Boluarte übernahm die Führung des Landes in einer desolaten Lage, die unter anderem auf die Misswirtschaft ihrer Vorgänger zurückzuführen ist. Korruption gehört bei peruanischen Politikern fast zum guten Ton, mehrere Ex-Präsidenten sitzen deshalb in Haft. Angefangen bei Alberto Fujimori, dessen Amtszeit von 1990 bis 2000 heute offiziell als Diktatur bezeichnet wird. Seit 2007 sitzt er in Haft – unter anderem wegen Korruption und schweren Menschenrechtsverletzungen. Ihm werden Massaker, Folter und der Einsatz von Todesschwadronen vorgeworfen, ebenso wie die Zwangssterilisierung von hunderttausenden von Frauen. Seit 2017 wird darüber debattiert, ob er begnadigt und früher aus der Haft entlassen werden soll, da er an gesundheitlichen Problemen leidet.
Auch Alan García, der das Amt des Staatspräsidenten von 1985 bis 1990 und erneut von 2006 bis 2011 innehatte, war wegen Korruption angeklagt worden. Wie unzählige andere hatte García vom brasilianischen Konzern Odebrecht Schmiergelder erhalten – in diesem Fall mehr als 100‘000 Dollar für seinen Wahlkampf. Im Gegenzug sollte er dafür sorgen, dass staatliche Bauverträge an Odebrecht vergeben werden. Um seiner Verhaftung zu entgehen, beging er im April 2019 Selbstmord, kurz bevor die Polizei bei ihm zu Hause eintraf.
Pedro Pablo Kuczynski: Sohn eines deutschen Juden und einer Schweizer Musikerin
Und dann ist da noch Pedro Pablo Kuczynski, der 2016 an die Macht kam: Sohn des deutschen Juden Max Kuczynski und der Schweizer Musikerin Madeleine Godard, Tante des bekannten Filmregisseurs Jean-Luc Godard. Kuczynski wuchs in Peru auf, wohin seine Eltern 1933 geflohen waren. Er bewegte sich in der internationalen Wirtschaftswelt und war in den Führungsetagen von Großbanken, der Weltbank sowie Bergbauunternehmen vertreten, bevor er Energie- und später Wirtschaftsminister wurde.
Bei seiner Wahl 2016 war eins seiner großen Anliegen der Kampf gegen die Korruption, der er jedoch schlussendlich selbst verfiel. Genau wie García soll auch er sich vom Odebrecht-Konzern haben bestechen lassen, außerdem sei er in Geldwäsche verwickelt gewesen. 2019 wurde er wegen Verdacht auf Korruption verhaftet und befand sich bis vor zwei Wochen im Hausarrest. Obwohl weiter gegen ihn ermittelt wird, wurde seine Präventivhaft aufgehoben, so dass er sogar aus dem Land ausreisen darf.

Neoliberale Diktatorentochter vs indigener Gewerkschaftler
Als Nachfolger von Kuczynski übernahm der damalige Vizepräsident Martín Vizcarra 2018 das Präsidentenamt. Und damit begann die eigentliche Vorgeschichte der heutigen Situation. Nachdem der 59-jährige Ingenieur eine Weile lang als beliebtester Präsident seit Jahren gegolten hatte, wurde Vizcarra im November 2020 des Amtes enthoben – auf Grund von, wen wundert’s, Korruptionsvorwürfen. Das Parlament, das ihn absetzte, war aber nicht weniger korrupt: Gegen 68 der 130 Abgeordneten liefen zu diesem Zeitpunkt Ermittlungen wegen Korruption oder Amtsmissbrauch. Nach der Absetzung von Vizcarra nahm der Oppositionspolitiker und damalige Parlamentspräsident Manuel Merino das Präsidentenamt.
Das Hickhack zwischen Parteien und Politikern, gepaart mit dem unaufhörlichen Grassieren der Korruption, brachte große Teile der Bevölkerung zunehmend in Rage. Schon nach der Absetzung Vizcarras wurden schnelle, demokratische und transparente Neuwahlen und die Erarbeitung einer neuen Verfassung gefordert. 2020 arteten die Proteste zwar nicht so heftig aus wie aktuell – doch auch damals führte die Polizeigewalt zu zwei Toten und hunderten von Verletzten. Auf Grund von massivem politischem Druck trat Merino nach nur fünf Tagen Amtszeit zurück, und Francisco Sagasti übernahm die Präsidentschaft ad interims – bis zu den Präsidentschaftswahlen im Juni 2021. Und diese waren ein weiterer Fall für sich: Die Bevölkerung hatte die Wahl zwischen 18 Kandidatinnen und Kandidaten – so viele, dass die Stimmen zersplittert wurden und es zu einer Stichwahl zwischen zwei Kandidaten kam, die nicht gegensätzlicher hätten sein können.
Pedro Castillo wurde als kleineres Übel betrachtet.
Erstens: Keiko Fujimori, Tochter des Ex-Diktators Alberto Fujimori. Dem neoliberalen Wirtschaftsmodell verpflichtet, das die Ressourcen des Landes gnadenlos plündert, versprach sie nicht nur wirtschaftlichen Aufschwung, sondern auch, das Land «mit harter Hand zu führen». Zweitens: Pedro Castillo, ein indigener Gewerkschaftler und Lehrer, der die indigene Bevölkerung repräsentieren wollte und eine linke Ausrichtung versprach. Castillo gewann die Wahl – doch nicht alle, die für ihn stimmten, taten dies aus voller Überzeugung. Laut einer damaligen Umfrage des Instituts für Peruanische Studien IEP gaben elf Prozent der Castillo-Wähler als Hauptgrund für ihre Entscheidung an, dass sie die Präsidentschaft von Fujimori verhindern wollten. Sechs Prozent sahen Castillo als kleineres Übel.
Keine gute Voraussetzung für eine Präsidentschaft – zumal die Wahlen das Land tief gespalten hatten. So war Castillos Amtszeit, die er im Juni 2021 antrat, denn auch geprägt von großer Instabilität – und ebenfalls von Korruptionsvorwürfen. Innerhalb eines Jahres hatte Castillo insgesamt 67 Ministerinnen und Minister ausgetauscht. Im Juni 2022 trat er aus der Partei «Perú Libre» aus, mit der er die Wahlen gewonnen hatte. Dies, nachdem der Parteivorstand ihm den Austritt nahegelegt hatte, weil «die von ihm verfolgte Politik nicht mit dem Wahlversprechen übereinstimmte».
Doch Castillo hatte nicht nur seine eigene Partei, sondern auch das Parlament gegen sich. In seinem ersten Amtsjahr hatte dieses zwei Mal versucht, Castillo abzusetzen – jedoch ohne Erfolg. Als für den 7. Dezember 2022 eine weitere Abstimmung angesagt wurde, die die Absetzung Castillos zum Ziel hatte, wollte er dieser Bedrohung zuvorkommen und verkündete, das Parlament aufzulösen. Auf Grund dessen enthob ihn das Parlament mit 101 Ja-Stimmen des Amtes – bei sechs Gegenstimmen und zehn Enthaltungen.
Die Frage, ob Castillos Versuch, das Parlament aufzulösen, verfassungswidrig war, wird unter Juristen und Politikern bis heute diskutiert. Jedenfalls wurde er festgenommen, als er das Regierungsgebäude verließ, und befindet sich seitdem in Präventivhaft. Es drohen ihm bis zu zwanzig Jahre Gefängnis.
«Summe aller Inkompetenzen»
Ein Teil der Menschen, die auf die Straße gehen, fordern die Freilassung Castillos. Der größere Teil jedoch will den Rücktritt von Dina Boluarte und Neuwahlen von Staatsoberhaupt und Parlament – und zwar noch dieses Jahr. Denn auch gegen das Parlament hegen viele seit längerem einen Groll, unter anderem wegen der hohen Korruptionsrate. In einer Volksumfrage von November 2022 gaben 86 Prozent der Bevölkerung an, kein Vertrauen in ihr Parlament zu haben. Dieses selbst hat jedoch vorletzte Woche den Vorschlag abgelehnt, im Oktober 2023 Wahlen durchzuführen. Der frühestmögliche Termin sei Dezember 2023 – doch in diesem Fall würde das neue Staatsoberhaupt sein Amt erst im April 2024 antreten. Das will die Bevölkerung nicht akzeptieren.
Die Situation wird immer verfahrener, und weder die Demonstranten noch die Regierung rücken von ihrer Position ab. «Nach so vielen Toten, die Dina Boluarte und das Kabinett zu verantworten haben, ist es für das Land äußerst schwierig, sich zu versöhnen oder Wege des Dialogs mit denselben Akteuren zu finden, die diese enorme Tragödie verursacht haben», sagt der Soziologe Víctor Caballero Martin. «Es gibt keine einfachen Erklärungen und noch weniger Rechtfertigungen für den Versuch, andere für die politische Krise und die Todesfälle verantwortlich zu machen. Was hier am Werk ist, ist die Summe aller Inkompetenzen und Unzulänglichkeiten der politischen Klasse, der Parteien, der Presse und der Meinungsmacher.» ♦
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