Mensch. Gesellschaft. Meer.

andersRum #4

Wir wissen viel, verstehen aber wenig

In den letzten 300 Jahren hat der «moderne Mensch» sein mechanistisch-wissenschaftliches Weltbild ad absurdum geführt. Unser Wissen wächst zwar täglich, doch es ist nur in einem sehr beschränkten Biotop hilfreich.

Klimakollaps, Krieg, Pandemie, Erdbeben, Dürren und Überschwemmungen – seit Jahren kommen wir nicht mehr aus dem Krisenmodus hinaus. Und je länger desto mehr stellt sich die Frage, ob wir die richtigen Strategien anwenden, um mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts umzugehen.

Das rational-aufgeklärte Weltbild, das vor 300 Jahren als neu und revolutionär gefeiert wurde, hat nicht nur zum wissenschaftlichen Zergliedern der Realität geführt, sondern auch zum Versuch, die Mechanismen des Universums mit Technologie zu kontrollieren. Doch diese Praxis ist nicht nur ein Teil des Problems, mit dem wir heute konfrontiert sind. Sie zeugt auch davon, wie der Mensch sich in ein Weltbild hineingesteigert und dieses ad absurdum geführt hat.

Dabei ist den meisten nicht bewusst, dass unser Weltbild weder das einzig mögliche noch das adäquateste ist. Ein Weltbild, das man «mechanistisch-wissenschaftlich» nennen kann und das davon ausgeht, dass die Welt und seine Wesen wie Maschinen funktionieren. Darauf gründet auch die Annahme, dass man ihre Funktionsweise erforschen, nachbilden und reparieren kann. So geht man zum Beispiel davon aus, dass durch den Menschen generierte Umweltprobleme mit technischen Lösungen geflickt werden können. Oder dass Krankheiten mit Impfungen oder Medikamenten – sprich chemischen Mitteln –, durch Operationen oder mittels Organspenden «kuriert» werden können. Also ob man wie bei einem Auto kaputte Teile einfach reparieren oder ersetzen könnte.

Die Natur wird als wild und feindselig betrachtet.

Die Illusion des modernen, «zivilisierten» Menschen hat viele Auswüchse, aber im Grunde beruhen sie alle darauf, dass er seine eigene Existenz als abgetrennt von der Natur wahrnimmt. Diese wird statt als Organismus, mit dem wir verbunden sind, als wild und feindselig betrachtet. Als mehr oder weniger unberechenbare Bedrohung, die wir unter Kontrolle bringen müssen, um Ordnung und Sicherheit zu garantieren. Wir haben Frühwarnsysteme gegen Erdbeben und Tsunamis. Wir haben Chemotherapien gegen Krebs. Wir haben Minidrohnen, die Blüten bestäuben, wenn die Bienen ausgestorben sind. Wir haben Apparate, die CO2 in Sauerstoff umwandeln, wenn es keine Bäume mehr gibt.

Das bedeutet aber nichts anderes, als dass wir den Teufel durch Beelzebub austreiben. Schließlich hat gerade der extensive Einsatz von Wissenschaft und Technologie zu lebensbedrohlichen Katastrophen wie dem Bienen- und dem Waldsterben geführt.

Wir halten uns für intelligent, doch unser Wissen ist nur in einem sehr kleinen, beschränkten Biotop hilfreich. Vergleichen wir unsere Erkenntnisse über Kernspaltung, Weltraumerkundungen oder vollautomatisch durchgeführte Operationen am menschlichen Körper mit dem holistischen, umfassenden Weltbild von indigenen Völkern, stellt sich heraus, dass wir zwar mehr «wissen», aber weniger verstehen.

Was jemand sieht, hört, fühlt und riecht, hat keinen Anspruch auf Wahrheit.

Dass das wissenschaftliche Weltbild eine von vielen Möglichkeiten ist, den Kosmos zu verstehen und darzustellen, stellt auch der deutsche Journalist Fabian Scheidler in seinem empfehlenswerten Buch «Das Ende der Megamaschine» dar:

Wissenschaft produziert nicht nur Erkenntnisse, sondern auch Weltbilder, indem sie definiert, was wirklich, wahr und relevant ist. Dabei erhielt das Messen und Zählen Schritt für Schritt Vorrang vor anderen Arten der Erkenntnis und Erfahrung. Während das Nichtmessbare und Nichtzählbare auf den Status von «subjektiven Eindrücken» herabsank, erhielten Messungen und mathematische Beschreibungen das Prädikat «objektive Wahrheit»›. Was jemand selbst sieht, hört, fühlt und riecht, kann keinen Anspruch auf Wahrheit, ja auf Wirklichkeit mehr erheben; erst wenn Experten im kontrollierten, wiederholbaren Experiment etwas messen können, ist es real.

Doch dieses Denkmodell will die Welt nicht nur erfassen, sondern sie auch so manipulieren, dass sie dem Menschen dienlich ist. Diese Logik ist so fundamental anthropozentrisch – menschenzentriert –, dass die größte Sorge im Zusammenhang mit dem Bienensterben in der Frage besteht, wie in Zukunft die Nutzpflanzen bestäubt werden sollen, von denen wir uns ernähren. Die Klimakrise wird nur als Krise betrachtet, weil sie nach und nach den menschlichen Lebensraum zerstört.

Die Natur ist in diesem Weltbild nicht an sich schützenswert, sondern nur, insofern sie für uns von Nutzen ist. Sie ist für den modernen Menschen ein Ressourcenlager, an dem er sich beliebig bedienen kann: Erdöl und Erdgas, Metallvorkommen, Wälder, Seen und Flüsse sowie die fruchtbare Erde der Böden, Tiere und Pflanzen scheinen nur dazu da zu sein, um unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Wir nehmen und nehmen, und wenn ein Problem auftritt, ist schnell eine schlaue Lösung zur Hand. Die Wissenschaft wird’s schon richten. Wir denken nie darüber nach, dem Organismus, der unsere Lebensgrundlage darstellt, auch einmal etwas zurückzugeben – sei es ein Dank, ein Opfer oder zumindest das echte Bemühen, ihn nicht zu zerstören.

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In den indigenen Gemeinden der Hochanden wird sowohl die Beziehung von Mensch zu Mensch und von Familie zu Familie als auch die Beziehung zur Natur nach dem Prinzip des «Ayni» gestaltet. Ayni bedeutet so viel wie gegenseitige Hilfe oder Geben und Nehmen. Wenn Beziehungen asymmetrisch sind, weil die eine Seite immer nur nimmt und die andere Seite immer nur gibt, entsteht daraus nicht nur ein materielles und ein emotionales, sondern vor allem auch ein spirituelles Ungleichgewicht, das zu Krankheit und Unglück führen kann. Wenn ein Schamane beispielsweise einen Stein aus einem Fluss entfernt, fragt er nicht nur um Erlaubnis, sondern lässt im Sinne der Reziprozität auch eine Gabe an dem Ort zurück, zum Beispiel in Form von Cocablättern.

Das Gleiche gilt, wenn ein Apu (eine Art Berghüter) oder ein anderes spirituelles Wesen um Hilfe gebeten oder an einem Kraftort um Heilung ersucht wird. Wenn im Gegenzug kein «Geschenk» dargeboten wird, geht die Heilung schief. Diese rituellen Praktiken machen bewusst, dass das Gleichgewicht von Geben und Nehmen auch innerhalb von menschlichen Gemeinschaften grundlegend dafür ist, dass diese langfristig funktionieren – egal ob auf lokaler oder auf globaler Ebene. Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts mit ihren brutalen Asymmetrien und ihrer Ausbeutungslogik ist angesichts dessen in einem desolaten Zustand, der eine Vielzahl von physischen und psychischen Leiden mit sich bringt. ♦

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