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das Interview

«Beim sogenannten Offensichtlichen bin ich schaumgebremst»

Obwohl er sich intensiv mit Wut und Empörung beschäftigt, bleibt Bernd Stegemann während des Gesprächs auffallend ruhig. Der Mann, der inzwischen Twitter meidet, sagt: «Social Media sind eine Art Anabolika, um Gefühle möglichst gross zu füttern.» Der 55-jährige Dramaturg arbeitet in Berlin, lebt zeitweise in Brandenburg.

Foto: zvg

Gerade eben ist er in seinem Zuhause in Brandenburg. Da uns logistischbedingt viele Kilometer trennen, weichen wir auf die virtuelle Welt aus. Wäre auch eigenartig, wenn nicht. In der virtuellen Welt hat sich Bernd Stegemann vor gar nicht so langer Zeit viel herumgetummelt. Bezeichnenderweise findet das Interview also über Zoom statt. Pünktlich schalten wir uns beide ein.

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Bernd Stegemann: Hoffen wir mal, dass das Netz zwischen Brandenburg und der Schweiz hält.

Ach ja?
Oh ja. Noch hat man nicht einmal das Ortsschild hinter sich, wenn man Berlin verlässt, schon bricht der Empfang zusammen. Das Internet ist in Brandenburg noch ziemlich unbekannt.

Ein Glück für Sie, Sie leiden ja ohnehin unter Twitter und Co.
Es gibt ja nach wie vor keinen Twitter-Zwang. Man kann sich freiwillig an- und auch wieder abmelden.

Es ist elf Uhr morgens: Waren Sie heute schon empört oder wütend?
Ich werde nicht oft wütend. Altersbedingt kenne ich natürlich die Punkte, an denen ich zuverlässig wütend werden könnte. Twitter sprachen Sie bereits an. Da ist man ja als erwachsener Mensch – Gott sei Dank – in der freien Entscheidung, ob man sich mit diesen Dingen konfrontieren möchte oder man einfach sagt: ‹Nein, heute tue ich das nicht.›

Sie stören sich an der Wut, haben darüber sogar das Buch «Wutkultur» geschrieben. Aber, Wut ist doch auch gut? Die Südländer leben es uns vor: einfach mal rauslassen. Dem schlechten Autofahrer nachwerfen: Du Volldepp!
Sie beschreiben eine Emotionalität. Die ist natürlich etwas Gesundes. Vorausgesetzt, dass das gesamte Feld, in dem ein Gefühl ausagiert wird, emotional resonanzfähig ist. Aber sowohl in der deutschen als auch in der Schweizer Gesellschaft existiert ein tiefer Protestantismus. Will heissen: Affekte werden nicht ungebremst nach Aussen gelassen, sondern sind immer etwas, das man tendenziell unterdrückt. Zurück zu Ihrem Beispiel: Wenn jemand in Deutschland oder in der Schweiz Gefühle so laut äussert, führt das dazu, dass sie eine viel grössere Wirkung, sogar ungewisse Folgen haben.

Weswegen wir Schweizer in der Passivaggressivität herumdümpeln …
Jede Gesellschaft hat ihre eigene Emotionskultur. Wenn eine Kultur über viele Jahrhunderte diese Art von Affektregulierung gelernt hat, kann sie nicht plötzlich umschalten auf ungebremste Emotionalität. Gerade der Wutausbruch in einer protestantischen Gesellschaft hat sehr viel aggressivere und vernichten wollendere Impulse. Er ist nicht einfach ein Ausdruck eines Unbehagens. Ein solcher Wutausbruch ist quasi ein Dampfdruckkochtopf, in dem sich sehr lange viel angestaut hat. Wenn das explodiert, ist es zerstörerisch.

Eben doch: Wir sollten lernen, regelmässig Dampf abzulassen wie die Südländer.
Die protestantischen Gesellschaften müssen tatsächlich irgendeinen Weg finden, um aus dieser Verhemmung herauszufinden, ohne dabei das gesamte Porzellan zu zerschlagen.

Das Angestaute rauslassen: Tun das heute die Leute nicht in den Social Media?
Doch, und gerade die Anonymität der Social Media ist natürlich ein vermeintlicher Freiraum, um die Sau rauszulassen, wie man so schön sagt. Gleichzeitig – das ist eine Dialektik, die in der öffentlichen Diskussion ein wenig unter den Tisch fällt – wird das auch absichtlich getriggert, durch die Art, wie Twitter und Facebook als Algorithmen gebaut sind. Diese Plattformen möchten, dass sich dort Menschen möglichst drastisch, grenzüberschreitend, expressiv zeigen, das bringt viel Traffic. Die Menschen sollen da permanent in Aggression und Wut versetzt werden.

Na ja, Social Media wurden nicht dafür erfunden. Diese Entwicklung kam mit der Zeit.
Social Media sind heute nicht nur ein Überdruckventil, sie sind auch eine Art Anabolika, um Gefühle möglichst gross zu füttern, um der Empörung freien Lauf zu lassen. Die Radikalisierung, die man auf Twitter beobachten kann, habe ich ja an mir selbst auch festgestellt.

Sie fingen als liebenswürdiger Mensch an, und dann?
Mir fielen zwei Veränderungen meines Verhaltens auf: Das eine war, dass ich meine Formulierungen immer zugespitzter machen wollte. Und das andere – was ich fast noch unangenehmer fand – war, dass ich zusehends anfing, aktiv nach etwas zu suchen, das ich skandalisieren kann. Klar: Wenn man möglichst fest mit der Faust auf den Tisch haut, verbal, kriegt man viele Likes, Herzchen und Retweets. Auf Twitter wurden in mir die negativen Eigenschaften des Wutbürgers getriggert.

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Der Mann ohne Mimik. Stegemann ist auffallend ruhig und bewegungsarm während des Gesprächs. Wenn er redet, braucht er beispielsweise die Hände kaum, um seine Aussagen mit Gesten zu untermalen. Mehr noch: Er sitzt praktisch immer gleich da, schaut direkt in die Kamera und hört aufmerksam zu, wenn sein Gegenüber etwas fragt oder erzählt. Was angenehm ist. Es fällt also schwer, sich vorzustellen, dass Stegemann zu anderen Zeiten möglicherweise Wut beladen in die Tasten haute.

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Wut, Empörung … daraus kann auch Positives entstehen, etwa eine Französische Revolution. Corona hat gezeigt, die Menschen sind wütend: zu viel Arbeit, zu wenig Selbstbestimmtheit, zu wenig Geld. Es gibt Missstände.
Natürlich, ohne Wut, ohne ein rebellisches Gefühl kann man gar nichts tun in der Welt, nicht einmal aus dem Haus gehen. Also irgendeine Lebensenergie braucht es. Die Frage ist doch immer nur, ab welchem Moment ein Gefühl wie Wut oder Empörung anfängt sich selbst zu verhärten und damit eine Abschottung gegenüber der Realität herbeiführt. Stichwort Corona-Leugner: Menschen, die einfach gesagt haben, Corona sei eine Erfindung von Lauterbach und den Medien. Denen ist mit keinem Argument mehr beizukommen. Kurzum: Wo kippen Wut und Empörung in Selbstradikalisierung und Selbstverdummung um, wo haben sie eine konkrete Ursache und bleiben lebendig?

Wann also ist Empörung gut?
Wenn sie ein Unrecht wie prekäre Arbeitsverhältnisse und steigende Preise versucht öffentlich zu machen. Das ist der Ursprungsimpuls jeder Art von sozialer Verbesserung. Er ist sowohl moralisch richtig als auch politisch sinnvoll. Jetzt haben wir es aber durch all diese vielen technischen Begebenheiten mit einer starken Dynamisierung der Welt zu tun. Die Wut, Angst und Empörung sind leichter in der Öffentlichkeit zu kommunizieren als das Argument, weil sie ad hoc viel sichtbarer sind.

Zwei Welten von Wahrheit. Das ist das, was wir zurzeit in den Industrienationen erleben.

Sind Wut, Angst und Empörung nicht ebenso Argumente?
Genau. Und da kommt man nun in das sehr komplexe Fahrwasser hinein, mit dem wir es momentan zu tun haben: mit zwei Registern von Argumenten. Das eine Register ist das klassisch aufklärerische. Da gibt es eine Verständigung darüber, dass eine intersubjektive Rationalität existiert. Also etwas, das quasi alle gleichermassen verstehen. Und wenn es alle gleichermassen verstehen, dann können die Menschen auch nicht mehr einfach so tun, als gäbe es das nicht.

Etwa Corona?
Etwa Corona. Oder ich stelle mich auf den Punkt: ‹Nein, ich leugne dieses Verstehen, nein, Corona, das ist nur eure und nicht meine Wahrheit. Denn meine Wahrheit ist ein Gefühl, eine Empörung, eine Wut, was auch immer, und die macht mich quasi schwerhörig bis hin zu unerreichbar für das Argument der Aufklärung.›

Zwei Register, zwei Welten.
Zwei Welten von Wahrheit. Das ist das, was wir zurzeit in den gesamten Industrienationen erleben. Diese zwei Wahrheitsregime treffen aufeinander und reden immer weniger über das Gleiche – aber immer mehr darüber, welches der Regime jetzt das wahrere ist.

Wer entscheidet eigentlich darüber? Sollten es nicht die Wissenden tun?
Gehen wir von Platon aus, er hat zwei unterschiedliche Wahrheitsregime eingeführt. Episteme und Doxa – Wissen und Meinung. Heute würde man sagen: Wissenschaft und Meinung. Wir alle haben zu allen möglichen Sachen eine Meinung. Wenn wir mal ehrlich sind, wissen tun wir meistens sehr wenig. Was wissen wir schon Genaues über Zinserhöhung, Gaslieferung oder wie ein Atomkraftwerk funktioniert, eine Meinung haben wir trotzdem dazu.

Und diese Meinung lässt Platon gelten …
Er sagt, dass nicht immer nur diejenigen entscheiden sollen, die wissen. In der Politik geht es ja stets um Fragen, die alle angehen, sie sind weitreichender Natur. Platon sagt, dass selbst das grösstmögliche Wissen grundsätzlich nicht wissen kann, was alle Folgen einer Entscheidung sind. Darum muss man bei einem demokratischen Staat ebenso die Meinung aller einholen. Denn bei grundlegenden Fragen ist die Menge der Meinungen genauso ein Wahrheitsgarant wie das wissenschaftliche Wissen.

Interessanter Ansatz, zumindest wenn man an die Zeit zurückdenkt, als Corona unseren Alltag beherrschte.
Das ist die Balance, die die Demokratien versuchen müssen zu finden. Letztlich ist immer die grosse Frage: Was an einer Entscheidung kann man durch Wissen klären, damit man nicht einfach dumm entscheidet, oder falsch. Was an einer Entscheidung ist jedoch so geartet, dass es nur durch die Mehrheit der Meinung entschieden werden sollte. Dies ist der innere Zwist, den die Demokratie ausmacht. Beides muss Platz haben: das Wissen und die Gefühle. Wenn nur noch das Wissen Macht hat, radikalisiert sich die Meinung und wird zu einer toxischen Form von Emotionspolitik.

Egal, die Welt geht ja ohnehin unter: Krieg, Krisen, Inflation …
(lacht) Die Schweiz doch nicht! Sie hat schon von jeder Krise profitiert.

… dann kommen noch Stagnation, Blackout und alles andere. Vielleicht begründet diese heutige Empörtheit auf einer Vorahnung, was auf uns zukommt?
Eine solche religiöse Frage? Interessant.

Das ist eine physikalische Frage: Sie stecken einen Finger ins Wasser und Wellen gehen ab, die kommen irgendwo an.
(lacht) Ja, aber der Mensch ist ja nicht nur Naturwissenschaft, sondern auch Seele. Und wenn alles so apokalypsenmässig mitgeteilt wird, wie in letzter Zeit die Wetterprognosen, die immer gleich noch vor dem Klimawandel warnen, na ja. Was ich sagen will: Der Mensch reagiert auf Umweltirritationen, aber er produziert sie auch. Wenn in den Medien dauernd von Weltuntergang und Apokalypse geredet wird, dann führt das zwangsläufig dazu, dass immer mehr Menschen denken: ‹Oh Gott, das Mehl ist ausverkauft, das ist der Weltuntergang.› Aber eigentlich ist ja nur das Mehl ausverkauft.

Es macht Sinn ein wenig demütig zu sein im Hinblick auf die eigene Prognosefähigkeit.

Sie sprechen auch von der Angst vor dem Offensichtlichen. Meinen Sie damit, dass wir lieber wegschauen?
Also … sobald wir uns um die wirklich grossen Probleme drehen, wie Klimawandel oder der Fortgang der Demokratien, ist das sogenannte Offensichtliche ja nicht wirklich offensichtlich. So wurden vor rund 50 Jahren Prognosen gemacht, von denen wir heute wissen, dass sie überhaupt nicht eingetroffen sind. Damals ging man davon aus, dass sich die Erde abkühlen wird, man dachte, der Treibhauseffekt funktioniert genau umgekehrt. Es macht also Sinn ein wenig demütig zu sein im Hinblick auf die eigene Prognosefähigkeit. Darum bin ich beim sogenannten Offensichtlichen immer ein wenig schaumgebremst.

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Der Mann mit den schönen Sätzen. Stegemann ist Dramaturg am Berliner Ensemble und Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst «Ernst Busch». Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zur Kunst des Theaters und zur Dramaturgie des öffentlichen Sprechens verfasst – sowie diverse Zeitungsartikel zum politischen Sprechen. Es verwundert also nicht, dass er sehr geschliffen, facettenreich und auf den Punkt bringend spricht. Es ist ein Genuss, ihm zuzuhören, wenn er die Worte in einem lockeren Seiltanz aneinanderfädelt.

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Und das Offensichtliche wäre was?
Es gibt auf der Welt auch kleinere Probleme. Etwa dass bestimmte Firmen keine Gewerkschaften zulassen oder dass es im Gesundheitssektor zu wenig Personal gibt. Eindeutige Probleme, das Offensichtliche ist da für jeden, der will, offensichtlich.

Deswegen lösbar …
Hier ist interessant zu beobachten, wie zum Teil versucht wird, von den Problemen abzulenken, und im politischen Diskurs sogar Verschleierungseffekte eingeführt werden. Mein Lieblingsbeispiel dazu: Amazon, das weltweit in seinem Unternehmen Gewerkschaften verhindert und extrem schlechte Löhne zahlt. Auf der Oberfläche produziert das Unternehmen aber diese «Mission Statements», in denen es sich für Diversität und Genderfluidität einsetzt und gegen Rassismus äussert etc. Kurzum, Amazons Konzept ist: Ins Schaufenster stellen wir eine unglaublich progressive Politik, im Laden selber beuten wir knallhart aus.

Zurück zu Twitter, wo sich das Offensichtliche zeitweise verliert und der Mensch zum Wutbürger wird. Waren Sie fix und fertig, als sie sich abmeldeten?
Ach ne, Twitter hatte sich einfach entzaubert, ich habe den Mechanismus durchschaut und dann zu mir gesagt, warum sollte ich meine Lebenszeit da verbringen. Es war eine sehr kühle und nüchterne Entscheidung und kein «Oh Gott, ich muss flüchten!»

Sie sind also wieder ein freier Mensch: kein Facebook, kein Twitter, kein Instagram.
(lacht) Absolut.

Und zusammengefasst: Empörung ja, aber gewusst wie.
Wenn es einen Grund zur Empörung gibt, ist es menschlich, sich zu empören. Man sollte nur die Empörung nicht mit der Lösung des Problems verwechseln.

 

Dieses Interview erschien erstmals im Magazin frei denken.

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