Mensch. Gesellschaft. Meer.

andersRum #1

Der böse Schmetterling

Die Frage nach Gut und Böse bewegt Philosophie, Religionen und Ethik seit Jahrtausenden. Darin spiegelt sich der Wunsch, die beiden Gegensätze – oft in personifizierter Form – so klar wie möglich gegenüberzustellen. Doch sind die Grenzen in Wahrheit nicht fliessend? Kolumne von Nicole Maron.

Was bedeutet es, ein guter Mensch zu sein? Kann man etwas tun, das sich für alle Beteiligten positiv auswirkt? Ist es überhaupt möglich, die Konsequenzen seines Handelns abzuschätzen? Was, wenn man jemanden vor dem Ertrinken rettet, dieser Jemand aber später zum Mörder wird? Hat man dann ein Leben erhalten oder eins ausgelöscht?

Kann man für alles, was man bewirkt, zur Rechenschaft gezogen werden? Auch wenn man sich der unendlichen Verkettung von Ursachen und Wirkungen unmöglich bewusst sein kann? Macht uns unser Unwissen böse, gleichgültig oder ignorant? Was ist schlimmer? Ist der Schmetterling böse, weil er mit seinem Flügelschlag in tausend Kilometern Entfernung einen Wirbelsturm auslöst? Haben Tiere einen freien Willen? Kann sich ein Löwe entscheiden, Vegetarier zu werden?

Gibt es überhaupt so etwas wie Willensfreiheit? Haben wir parallele Welten, in der wir anders handeln könnten? Existiert überhaupt eine Welt? Oder bin ich nur ein Hirn in einem Forschungslabor, das Reizen ausgesetzt wird, so dass ich glaube, sehen, hören und fühlen zu können? Wäre dann der Forscher, der dieses Experiment durchführt, Gott? Hat Gott einen freien Willen?

War das Herrschaftssystem im Garten Eden eine Diktatur?

Greifen wir in Gottes Plan ein, wenn wir das Böse verhindern? Oder ist dies Teil des Plans? Kann eine Tat als gut bezeichnet werden, wenn sie nur aus Angst vor Gottes Strafe begangen wird? Ist es ethisch, Gutes zu tun, weil es die Gesetze vorschreiben? Schreiben die Gesetze Gutes vor? Ist es gut, Geflüchtete aus dem Mittelmeer zu retten, auch wenn es dem Gesetz widerspricht? Was ermächtigt uns, darüber zu urteilen, welche Gesetze gerecht sind? Ist das Schweizer Strafrecht besser als die Scharia oder die indigene Rechtsgebung?

Beurteilen wir die Scharia als böse, weil wir sie nicht verstehen? Oder gibt es universelle Werte, die uns dazu berechtigen? Doch wie können wir wissen, ob die Werte, die wir verteidigen, das universelle Gute repräsentieren? Denkt Kim Jong-un, dass er das Beste für sein Volk tut? Hat Hitler sich selbst als bösen Menschen gesehen?

Gibt es eine universell gültige Antwort auf die Frage, ob eine Diktatur oder eine Demokratie besser ist? War das Herrschaftssystem im Garten Eden eine Diktatur? War das Leben im Garten Eden gut? Ist es gut, wenn man Gut und Böse nicht unterscheiden kann? War Gott böse, weil er den Menschen die Erkenntnis vorenthalten wollte? Ist es böse, nach Wissen und Erkenntnis zu streben? War die Schlange gut, weil sie dem Menschen verraten hat, dass Gott sie angelogen hat?

Ist Lügen böse, auch wenn es zum Schutz des Anderen geschieht? Ist Gott gut? Ist es böse, Gott zu hinterfragen? Ist der Teufel böse, weil er dem Menschen schadet? Ist Gott böse, weil er den Teufel damit beauftragt hat, Hiob zu schaden, um die Treue der Menschen zu testen? Ist es böse, nicht an Gott und den Teufel zu glauben? Ist es gut, Fragen über Gut und Böse zu stellen?  Oder ist das Zweifeln, das Relativieren, das Hinterfragen und das Infragestellen geradezu der Inbegriff des Bösen? ♦

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