Es braucht den Pflichtdienst für alle Schweizer und Schweizerinnen, davon ist der Verein Service Citoyen überzeugt. Für die Co-Präsidentin Noémie Roten ist klar: Männer und Frauen sollen beide einen Dienst für die Gesellschaft leisten, sei es im Zivildienst, Zivilschutz oder in der Armee. Vor einem Jahr lancierte der Verein die Volksinitiative «für einen Service Citoyen».

Was genau soll ein Dienst für alle – ein Service Citoyen – bringen?
Noémie Roten: Wir haben die Vision von einer aktiven Schweiz, in der Gleichberechtigung, sozialer Zusammenhalt und Solidarität selbstverständlich werden. Eine Schweiz, die handelt, sich engagiert und in der wir gemeinsam die Herausforderungen von morgen, aber auch von heute anpacken. Etwa ökologische Krisen, den Klimawandel, sanitäre Krisen, demografische Herausforderungen oder Alterseinsamkeit. Jede und jeder soll seine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft übernehmen können.
Deswegen haben Sie vor einem Jahr die Volksinitiative für einen Service Citoyen lanciert.
Genau. Die Initiative fordert, dass jede und jeder einmal in seinem Leben einen Einsatz für die Gesellschaft und Umwelt leistet. Sei es im Zivildienst, Zivilschutz, Militärdienst oder in einem anderen Milizengagement.
Die Vorteile sind?
Wird der Service Citoyen eingeführt, verdoppelt sich der Rekrutierungspool für Armee, Zivilschutz und Zivildienst. Wenn ich beispielsweise die letzten paar Jahre anschaue, das Hochwasser in der Schweiz und Deutschland oder die Coronakrise – das zeigt, dass wir die Definition von Verteidigung ohnehin neu definieren müssen. Auf diese und künftige Bedrohungen und Krisen brauchen wir eine zivilgesellschaftliche Antwort. Die Einführung des Service Citoyen ist aber nicht nur ein quantitativer, sondern auch ein qualitativer Mehrwert. Wer sich zum Beispiel bewusst für den Armeedienst entscheidet, ist motivierter, als diejenigen, die heute einfach dazu gezwungen werden. Die Armee verzichtet zurzeit fast ganz auf Frauen, lediglich 0,9 Prozent der Armeebestände sind weiblich.
Legen wir den Fokus auf die Frauen: Wir sind im 21. Jahrhundert, und immer noch haben nur die Männer Dienstpflicht. Ist das nicht unglaublich?
Doch. Wir haben im Jahr 2023 in der Schweiz immer noch ein System, das sexistisch ist und systematisch einen Großteil der Bevölkerung, sprich: Frauen, aber auch Untaugliche, ausschließt. Es ist eine verfassungsrechtliche Anomalie.
Das heutige System ist diskriminierend.
Ja, denn die Botschaft, die es ja aussendet, ist: dass nicht jede und jeder fähig ist, öffentliche Aufgaben oder Verantwortungen zu übernehmen. Das aktuelle Modell, das strikt militärisch und männlich orientiert ist, fördert eine Kultur, die ganz klar die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen schädigt, auch auf politischer Ebene. Es zementiert nämlich gewisse Stereotypen und beeinträchtigt direkt den Gleichstellungsprozess. Wer sagt denn, dass eine Frau nicht Militärdienst leisten kann und ein Mann keinen Zivildienst als Pfleger? Wieso sollten diese beiden Sachen nicht gleichwertig sein? Der Service Citoyen will also diese Stereotypen aufbrechen.
Das Volk ist progressiver als das Parlament.
Ist es nicht so, dass im Militär auch wichtige Kontakte für später geknüpft werden?
Die Dienstpflicht bietet Männern einen Mehrwert, wovon Frauen und Untaugliche ausgeschlossen sind. Die Dienstpflichtigen haben die Möglichkeit, im jungen Alter Führungserfahrung zu sammeln, mit Menschen aus unterschiedlichen Regionen und Sozialschichten in Kontakt zu kommen, Katastrophenhilfe zu leisten. Kurzum: Sie machen wertvolle Erfahrungen und Kontakte. Heute ist der Zugang zu diesen Ausbildungswegen und Erfahrungen bestimmt vom Geschlecht und der körperlichen Fähigkeit, will heißen: Man muss Mann und tauglich sein.
Ist die Schweiz reif für die Annahme einer solchen Initiative, kurzum für ein Umdenken?
Ja, wir sind überzeugt davon, dass die Zeit für diese Idee reif ist, und mehrheitsfähig. Den Verein Service Citoyen haben wir ja bereits 2013 gegründet. Wir setzten unsere Hoffnungen zuerst aufs Parlament, das hat aber nicht geklappt. Die einzige reale Möglichkeit, dass der Service Citoyen politisch aufgegriffen wird, ist über eine Volksinitiative. Das Volk ist progressiver als das Parlament. Den Entschluss, die Initiative zu lancieren, fassten wir Ende 2018. Seither hat sich ein parteiübergreifendes Komitee gebildet. Im vergangenen Jahr haben wir rund 40´000 Unterschriften zusammengebracht.
Mehr Infos: www.servicecitoyen.ch
Noémie Roten ist Journalistin, Ökonomin und Co-Präsidentin von Service Citoyen. Die 34-Jährige kommt ursprünglich aus dem Wallis, lebt heute in Zürich. Den Militärdienst hat sie als Lastwagenfahrerin absolviert.
Dieser Text hat Ihnen gefallen?
Die Inhalte von Tentakel sind frei verfügbar. Vielen Dank, wenn Sie unsere Arbeit mit einem kleinen Beitrag unterstützen. Per Twint oder mit einem Klick auf den Button.