Mensch. Gesellschaft. Meer.

andersRum #2

Kopfüber, kopfunter

Die Weltkarte, die uns in Atlanten und Schulzimmern begegnet, ist falsch. Dennoch wird sie in fast allen Ländern weiter verwendet. Was, wie und warum? Ein Augenschein aus dem Kopfstand.

Oft hört man Leute davon sprechen, was «in Afrika unten» vor sich geht. Oder was «in Südamerika unten» halt normal ist. Dass sich Europa gegenüber den Ländern der Südhalbkugel meist überlegen fühlt, dürfte – zumindest vordergründig – auch geografische Gründe haben. Schließlich befinden wir uns über ihnen. Und wer oben ist, bestimmt. Oben sitzt der Bessere, der Wichtigere, der Mächtigere. Zum Beispiel Gott im Himmel, der Sieger auf dem Podest oder der Chef an der Spitze des Firmen-Organigramms.

Das Problem ist nur: Der Norden ist gar nicht oben. Wenn man die Karte verkehrt herum aufhängt, steht die Welt nicht auf dem Kopf. Eigentlich steht sie gar nicht. Weder so noch andersrum. Sie schwebt vielmehr im Universum, und dort gibt es weder Oben noch Unten, weder Norden noch Süden. Die Himmelsrichtungen und die räumliche Ausrichtung des Planeten, die heute als «normal» gilt, wurde von den ersten Kartenmachern definiert.

Wir verwenden ein Modell, das fast 2000 Jahre alt ist.

Natürlich müssen die antiken Geografen entschuldigt werden, wenn ihre Darstellungen weder vollständig noch realistisch waren. Schließlich waren ihnen nicht alle Kontinente bekannt, und sie verfügten nicht über die erforderlichen Instrumente, um die ganze Erde zu vermessen. Der griechische Geograf und Astrologe Ptolemäus bildete auf seiner Karte aus dem Jahr 150 nach Christus alles ab, was bisher von der Welt bekannt war: Europa sowie Teile von Afrika und Asien. Er entwickelte außerdem das System aus Längen- und Breitengraden, das wir bis heute benutzen. Will heißen: Wir verwenden ein Modell, das fast 2000 Jahre alt ist. Damals galt die Erde noch als Scheibe und als Mittelpunkt des Sonnensystems.

Das ist in der Welt der Wissenschaft wohl einmalig. Normalerweise werden Hypothesen, Skizzen und Modelle angepasst, wenn neue Erkenntnisse vorliegen. Doch nicht in diesem Fall. Im Gegenteil: Wir verwenden bis heute eine Karte, von der wir wissen, dass sie falsch ist. Und zwar gleich auf mehreren Ebenen.

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Europa wird seit jeher im Zentrum der Karte platziert. Dafür gibt es keinen plausiblen Grund. Schließlich ist die Erde eine Kugel, und jeder beliebige Punkt kann als «Mitte» gelten. Inzwischen gibt es Weltkarten, die Australien, China oder den Nordpol ins Zentrum stellen. Doch in Schulbüchern wird fast überall auf der Welt weiterhin die «klassische» Karte verwendet.

Noch schlimmer als dieser Eurozentrismus ist aber, dass die Größenverhältnisse der Kontinente vollkommen verzerrt sind. Dies haben wir dem flandrischen Geografen Gerhard Mercator zu verdanken, der 1569 eine Technik entwickelte, um die dreidimensionale Erde auf ein zweidimensionales Blatt Papier zu bringen. Genauso wie alle Kartographen stand Mercator vor einem geometrischen Problem und einer folgenschweren Entscheidung: Die Quadratur der Kugel ist ein Unterfangen, das von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Soll man die Größenverhältnisse der Kontinente beibehalten und dafür ihre Formen verzerren? Oder die Formen der Kontinente originalgetreu abbilden und dafür die Größenverhältnisse verzerren?

Mercator entschied sich für Letzteres. Und zwar – wen wunderts – zu Gunsten des Nordens: Europa, die USA und Russland sehen größer aus, als sie eigentlich sind. Beziehungsweise: Südamerika und Afrika sind zu klein abgebildet. Die Fehlerquote ist dabei signifikant. Südamerika zum Beispiel ist mit einer Fläche von knapp 18 Millionen Quadratkilometern achtmal größer als Grönland. Auf der Weltkarte sieht es jedoch höchstens doppelt so groß aus. Schweden sieht dreimal so groß aus wie Indien, obwohl es siebenmal kleiner ist.

Die Karte des japanischen Architekten Hajime Narukawa gilt als präziseste zweidimensionale Abbildung der Erde.

Auf das Verzerrungs-Problem gab es in den letzten 500 Jahren verschiedene Antworten. Doch alternative Karten werden als gewöhnungsbedürftig, wenn nicht als unheimlich empfunden. Zumindest aus europäischer Sicht. In japanischen Schulbüchern wird bereits seit 2015 die Karte des Architekten Hajime Narukawa verwendet, die als präziseste zweidimensionale Abbildung der Erde gilt. Auf dieser Karte sieht Europa so klein aus, wie es ist, und verbirgt sich unauffällig in einer Ecke. Geografisch korrekt, entspricht diese Darstellung natürlich nicht dem Selbstwertgefühl eines Kontinenten, der sich als politische, kulturelle und wirtschaftliche Weltmacht sieht – obwohl er weniger als einen Zehntel der Weltbevölkerung stellt, und seine Fläche nur sieben Prozent der Landfläche der Erde ausmacht. ♦


Tipp: Die interaktive Online-Plattform thetruesize.com zeigt die wirklichen Größenverhältnisse der verschiedenen Länder auf.

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