Mensch. Gesellschaft. Meer.

Die Geschichte von Zerins Flucht #3

Die Eselköpfe

Seit der Gründung der Türkischen Republik 1923 hat die Armee eine Sonderstellung im Land. Die Militärs setzen ihre Macht auch ein, um Minderheiten zu unterdrücken. Zerins Familie war, wie viele andere auch, von Diskriminierung und Gewalt betroffen.

Für kurdische Kinder gehört der Krieg zum Alltag. Foto: Nicole Maron

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Zerins jüngerer Bruder Azad wurde 1987 ins Militär eingezogen. Seine Einheit bestand aus 240 Soldaten. 6 davon waren Türken, die restlichen 234 Kurden. Die meisten von ihnen konnten kaum lesen und schreiben und verstanden nur ein paar Brocken Türkisch. Azad war einer von denen, die noch am meisten von den gebrüllten Befehlen verstanden. Aus diesem Grund kam er auch in die fortgeschrittene Stufe des Türkischunterrichts, den die Soldaten absolvieren mussten. Manchmal wurden sie in akkuraten Sitzreihen vor einen Fernseher gesetzt und gezwungen, türkische Propagandafilme anzusehen. Danach wurden sie einzeln aufgerufen und aufgefordert, bestimmte Stellen des Filmes zusammenzufassen. Da sie praktisch kein Wort verstanden, blieben sie stumm – dies wiederum ermächtigte die Vorgesetzten dazu, ihnen mit einem Holzstock auf den Kopf zu schlagen. «Eselköpfe!», schrien sie, «Seid ihr eigentlich Tiere oder Menschen? Wie kann es sein, dass ihr nichts versteht? Eure Dummheit ist wirklich grenzenlos!»

Mitunter konnte es aber schlimmer sein, zu sprechen, als zu schweigen. An einem unglückseligen Tag, den Azad nie vergessen würde, wusste er auf die Frage des Kommandanten eine Antwort, während sein Kollege den Mund nicht öffnete. «Gib ihm drei Ohrfeigen», befahl der Kommandant. «Nichtwissen muss bestraft werden.» Azads Magen zog sich zusammen beim Gedanken, einen Kollegen zu schlagen, aber er wusste, dass es keinen Ausweg gab. Er gab ihm eine leichte Ohrfeige, schwach genug, um nicht allzu schmerzhaft auszufallen, und doch stark genug, um den Kommandanten zufriedenzustellen. Doch weit gefehlt. «Was soll das sein, eine Liebkosung?», explodierte er. «Ich werde dir zeigen, wie man richtig schlägt!» Und er verpasste Azad einen so starken Schlag, dass ihm schwarz vor Augen wurde und seine Knie wegknickten.

Abgesehen vom so genannten Unterricht verbrachten Azad und seine Truppe praktisch den ganzen Militärdienst als Bauarbeiter. Wie alle anderen Soldaten im Land hatten sie in den ersten Wochen auch an Schießübungen teilgenommen. Da sie als Dorfbewohner jedoch gelernt hatten, mit Waffen umzugehen, waren sie den Kommandanten unheimlich. «Ihr schießt viel zu gut», sagten sie, «das bestätigt nur unseren Verdacht, dass ihr alle Terroristen seid! Euch Waffen in die Hand zu geben, würde eine Bedrohung für den Staat darstellen, statt ihn zu schützen!» Von da an wurden sie dazu beordert, Straßen zu bauen.

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Seit der Gründung der Türkischen Republik 1923 durch Mustafa Kemal Atatürk hat die Armee eine Sonderstellung im Land. Bis heute sehen sich die Generäle als Hüter und Verteidiger der kemalistischen Prinzipien. 1960, fünf Jahre vor Zerins Geburt, putschten die Generäle zum ersten Mal, verboten die damalige Regierungspartei, sprachen 15 Todesurteile, von denen drei vollstreckt wurden, und verurteilten 31 weitere Parteimitglieder zu lebenslanger Haft. Auch wenn die folgenden Jahrzehnte von politischen Unruhen und Machtkämpfen geprägt war, sollte die Position des Staatspräsidenten bis 1989 – fast 30 Jahre lang – immer von einem hochrangigen Mitglied der Armee besetzt bleiben, womit der Einfluss des Militärs auf alle politischen Entscheidungen im Land gesichert war.

Mitglieder der türkischen Armee hatten praktisch einen Freipass, sich der Bevölkerung gegenüber zu verhalten, wie es ihnen gerade passte. Zerin hörte immer wieder Geschichten von Frauen aus der Nachbarschaft, die von Soldaten vergewaltigt worden waren. Kurdisch zu sprechen war seit 1925 genauso wie der Gebrauch von Worten wie Kurde, Lase, Tscherkesse oder Kurdistan. Sprach jemand in der Öffentlichkeit kurdisch, musste er für jedes einzelne Wort eine Strafe zahlen. Die Begründung für diese Maßnahmen war, dass die Einheit und Souveränität des türkischen Staates angegriffen werde, wenn jemand behauptete, es würden innerhalb der Staatsgrenzen andere Nationalitäten existieren.

Alle Kurden wurden gezwungen, türkische Familiennamen anzunehmen.

Diese Grundhaltung schlug sich auch immer wieder in der Gesetzgebung nieder. Das türkische Strafgesetzbuch von 2005 enthält einen Artikel, der die «Beleidigung des Türkentums» unter Strafe stellt. «Wer die türkische Nation, den Staat der Türkischen Republik, die Große Nationalversammlung der Türkei, die Regierung der Türkischen Republik, die staatlichen Justizorgane sowie die staatlichen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft.»

1934 wurde ein Gesetz über Einführung von Familiennamen erlassen, und alle Kurden wurden gezwungen, türkische Familiennamen anzunehmen. 1944 wurde im amtlichen Wörterbuch der türkischen Sprachgesellschaft festgehalten: «Die Kurden sind eine in der Türkei, im Irak und im Iran lebende Gruppe, die zum größten Teil aus Türken besteht, welche ihre Sprache – das Türkische – aufgegeben haben und ein kaputtes Persisch sprechen.» Tatsächlich ist das Kurdische aber eine alte indogermanische Sprache, die sprachgeschichtlich mit dem Türkischen nicht verwandt ist.

Ironischerweise stammen viele Lehnwörter des modernen Türkisch aus dem Kurdischen. 1983 wurde die kurdische Sprache gesetzlich verboten. Kurdische Volkslieder durften nur noch auf Türkisch gesungen werden, Kindern durften keine kurdischen Namen gegeben werden. Insbesondere die Buchstaben W, X und Q, die im Türkischen nicht existieren, wurden verboten. Auch fast 3000 Ortsnamen wurden Anfang der 80er Jahre turkifiziert, so dass heute viele Dörfer zwei Namen haben – einen ursprünglichen kurdischen und einen offiziellen türkischen.

Journalisten und Verkäufer von kurdischen Zeitungen wurden krankenhausreif geschlagen.

Bis 1991 war auch sogar private Gebrauch der kurdischen Sprache unter Strafe gestellt. Die öffentliche Verbreitung dagegen wurde auch danach noch verfolgt. Einige Jahre später tauchte ein geheim gehaltenes, vom Innenministerium unterschriebenes Memorandum auf, in dem das Ergreifen gesetzlicher Maßnahmen gegen die Verbreitung der kurdischen Sprache gefordert wurde. Gestützt auf dieses Memorandum wurden Journalisten und Verkäufer von kurdischen Zeitungen krankenhausreif geschlagen oder sogar tödlich verletzt. Allein zwischen 1992 und 1994 wurden elf Vertreter der prokurdischen Zeitung «Özgür Gündem» umgebracht.

Das Buchstabenverbot wurde sogar im Ausland angewandt. 2009 etwa berichtete die deutsche Zeitung «Der Tagesspiegel» von einem kurdischen Flüchtling in Berlin, der seinem Sohn den Namen Cigerxwin – nach einem kurdischen Dichter – geben wollte. Das türkische Konsulat verweigerte dem Zweijährigen deswegen die türkische Staatsbürgerschaft und die Ausstellung eines Passes. «Hiermit wird bescheinigt, dass die Buchstaben X, W und Q in türkischen Vor- und Familiennamen nicht verwendet werden dürfen», hieß die Begründung. Doch während das Buchstabenverbot in Bezug auf das Kurdische konsequent angewandt wird, sind Wörter wie «Show», «WC», «Boutique» sowie www-Internetadressen auch in der türkischen Öffentlichkeit längst präsent, ohne dass sich jemand daran stört. ♦


Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Buch «Mutter, hab keine Angst. Die Geschichte von Zerins Flucht» von Nicole Maron. Zehn und elf Verlag 2014. ISBN: 978-3-905769-37-1

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