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Raunächte

Frau Holle zieht durch die Winternacht

Am 25. Dezember beginnt laut keltischer Überlieferung eine ganz besondere Zeit: die Raunächte oder die elf Schalttage zwischen den Jahren. Das Tor zur Anderswelt öffnet sich, und man kann Kontakt mit Naturwesen und Ahnen aufnehmen.

Schwarzwald während der Raunächte 2018. Foto: Sabine Mittermeier

Die Tage vor Weihnachten sind eine seltsame Zeit. Wenn man morgens aus dem Haus geht, ist es noch dunkel – und wenn man abends heimkommt, ist der Tag schon wieder vorbei. Draußen ist es garstig kalt, der Himmel eine fest zugezogene Gardine. Die Erinnerung an lange, laue Sommernächte scheint wie ein ferner Traum. Doch das heimelige Gefühl der Feiertage webt sich bei vielen wie ein goldener Faden durch diese Zeit. Lichter, Kerzen, Zimtgeruch und Tannenzweige stimmen für die Feiertage ein, an denen Ruhe und Besinnlichkeit im Zentrum stehen sollten.

Schon in keltischen Zeiten galt diese Zeit des Jahres als ganz besonders. Um die Differenz zwischen den 354 Tagen des Mondjahres und den 365 Tagen des Sonnenjahres auszugleichen, wurden zwischen den Jahren elf Schalttage eingeführt, die «außerhalb der Zeit» lagen.

Versetzen wir uns in ein Schweizer Bergdorf im Mittelalter: Abends beleuchten Herdfeuer und Kerzen die Innenräume der Häuser und lassen gespenstische Schatten über die Wände tanzen. Draußen ist es stockfinster. Der Wind pfeift durch die Bäume und an den Wänden entlang, und man hört seltsame Geräusche in der Finsternis. Es sind weder Stimmen von Tieren noch von Menschen – und doch scheint es, als würden sie etwas rufen. Denn der Zeit zwischen den Jahren stehen die Tore zur Zwischenwelt der Geister, Naturwesen und Ahnen offen. Sie nähern sich unseren Häusern und dringen in unsere Träume ein. Und es sind nicht nur hilfreiche, wohlgesonnene Wesen, die in den langen Winternächten mit uns in Kontakt treten. Auch dunkle Geister und unheilvolle Energien streunen in dieser Zeit herum, in der die Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden. Am Weihnachtsabend ist ihre Anwesenheit besonders deutlich spürbar, so dass man die Kirchenglocken läuten lässt, um sie zu vertreiben.

Die «Wilde Jagd» nennt man ihn vielerorts, den Trupp, der da durch die Lüfte fährt. Angeführt wird er vom nordischen Gott Odin und von Frau Holle, die in manchen Gegenden auch Perchta oder Frau Percht genannt wird. Mit ihnen ziehen die Seelen von Menschen, die eines unnatürlichen oder vorzeitigen Todes gestorben sind. Heulend und ächzend wehen sie durch die Dörfer, und man sagt, dass alle, die den Zug betrachten, von ihm mitgezogen werden – nicht nur Menschen, sondern auch Pferde und Hunde. Deshalb ist es alles andere als ratsam, in diesen Nächten aus dem Haus zu gehen.

Doch in dieser Übergangszeit, in der der Schleier zwischen Leben und Tod durchlässig wird, ist nicht nur nachts Vorsicht geboten. Während der so genannten Raunächte zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar gilt es, die Götter und Geister durch verschiedene Rituale zu besänftigen und sie sich vom Leib zu halten. Mancherorts werden Nahrungsmittel vor die Türen gestellt. Um die Windgeister milde zu stimmen, wirft man eine Handvoll Mehl, Brotbrösel oder Salz in die Luft. Oder man legt Brot auf die Äste der Bäume, damit sich der Wind daran satt essen kann und im Frühling nicht die jungen Blätter frisst. Im ganzen Alpenraum bis heute bekannt sind die Perchtenläufe, auch Krampusumzüge oder Klausentreiben genannt. Verkleidete, pelzige Gestalten gehen lärmend durch die Dörfer und scheuchen die Bewohner mit Ruten herum. Verjagt werden sollen aber vor allem die Raunacht-Geister. Mancherorts tragen die Perchten Glocken, um das alte Jahr auszutreiben.

Streng verboten ist es in dieser Übergangszeit, Wäsche aufzuhängen. Zu groß ist die Gefahr, dass Odin sie als Leichentücher für denjenigen verwendet, der sie aufgehängt hat. Um böse Geister und Krankheiten abzuwenden, wird Haus und Hof besonders gründlich gereinigt. Man räuchert die Zimmer und Ställe mit Harz, Kräutern oder Weihrauch aus und stellt in der Nacht Kerzen an die Fenster.

Die Zeit der Raunächte ist zwar eine der dunkelsten des Jahres, doch sie stellt auch den Abschluss eines Zyklus dar, und damit einen Neubeginn. Die Nähe der Anderswelt bringt außerdem auch Hellsichtigkeit mit sich und wird dafür genutzt, Orakel zu erstellen. Zum Beispiel, um das Wetter des kommenden Jahres zu erfahren. Dabei gilt das Klima am 25. Dezember – dem ersten Tag der Raunächte – als Vorschau für den Januar, das Klima des 26. Dezember für den Februar und so weiter. Auf die gleiche Weise gelten die Träume in den Raunächten als Orakel für die Ereignisse der kommenden 12 Monate.

Die Reinigungs- und Orakelrituale der Raunächte erlebten in den letzten Jahren ein richtiges Revival und geben neue alte Inputs für alle, die die Zeit zwischen den Jahren zum Anlass für Reflexion nehmen. Und mal ganz ehrlich: Ein bisschen Magie in den rationalen Alltag zu bringen, kann wirklich nicht schaden. ♦

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