Weil die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung trotz Gesetze immer noch nicht Realität ist, lancieren Betroffene die lnklusionsinitiative. Tatjana Binggeli gehört dem Initiativkomitee an, und als Gehörlose musste sie sich ihren Weg durch die Schweizer Bildung frei kämpfen. Die Medizinerin, die als erste gehörlose Person in der Schweiz einen Doktortitel erlangte, fordert eine tatsächliche Gleichstellung. Ein Gastbeitrag.
Im letzten Jahr wurden dem Schweizerischen Gehörlosenbund 127 Diskriminierungsfälle gemeldet: Der höchste Wert, seit Diskriminierungen von gehörlosen Menschen systematisch erfasst werden − ein trauriger Rekord.
Der Gehörlosenbund kämpft seit über 75 Jahren gegen solche Diskriminierungen und für die Gleichstellung von gehörlosen und hörbehinderten Menschen. Doch noch immer wird ihnen eine tatsächliche Gleichstellung verwehrt. Egal, ob am Arbeitsplatz, wenn die Kosten für die dringend benötigten Gebärdensprachedolmetschenden nicht übernommen werden. Oder wenn bei einem Arztbesuch die Kommunikation nicht funktioniert. Oder in der Bildung, wo bis heute gehörlosen Kindern nicht garantiert wird, dass sie in ihrer Muttersprache − der Gebärdensprache − lernen können.
Betroffen von solchen Diskriminierungen sind aber nicht nur gehörlose Menschen, sondern 1,8 Millionen Menschen mit Behinderungen in der Schweiz − das sind mehr als 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung! Die Barrieren und Diskriminierungen sind zahlreich. Diese Beurteilung teilt auch der UNO-Ausschuss zur Überprüfung der UN-Behindertenrechtskonvention. Im März 2022 kritisierte der Ausschuss die Schweiz für die fehlende Strategie, um die Situation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern, und forderte die Schweiz auf, weitreichende Reformen einzuleiten.
Inklusion und Gleichstellung dürfen nicht länger ein leeres Versprechen bleiben.
Die bestehenden rechtlichen Grundlagen genügen offensichtlich nicht, um Menschen mit Behinderungen ihre Rechte zu garantieren. Deshalb beschloss im Januar eine breite Allianz von Menschen mit Behinderungen und ihrer Verbände, die Inklusionsinitiative zu lancieren. Die Initiative will die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in sämtlichen Lebensbereichen in der Schweiz sicherstellen und dafür die Bundesverfassung anpassen.
Die heutigen Diskriminierungen haben für die Betroffenen weitreichende Folgen. Eine gehörlose Person hat beispielsweise heute keinen rechtlichen Anspruch auf eine Gebärdenspracheverdolmetschung für eine Psychotherapie. Der Erfolg einer Therapie ist aber vollständig davon abhängig, dass die Kommunikation zwischen Patient:in und Therapeut:in funktioniert. Mangelnde Kommunikationsfähigkeiten zwischen medizinischem Personal und gehörlosen Patienten kann lebensgefährdend sein. Der Ausschluss von medizinischen Leistungen führt dazu, dass Menschen mit Behinderungen nicht dieselben Chancen haben, ein gesundes Leben zu führen. Und das ist nur ein Beispiel von vielen.
Diese Situation ist bekannt und unhaltbar. Inklusion und Gleichstellung dürfen nicht länger ein leeres Versprechen bleiben, sondern müssen für uns Betroffene spürbar werden. Es darf nicht sein, dass Menschen mit Behinderungen weiterhin als «beschädigte» Menschen betrachtet und diskriminiert werden. Deshalb braucht es die Inklusionsinitiative. Deshalb soll die Bevölkerung darüber abstimmen können, ob wir eine inklusivere und offenere Schweiz haben wollen, die sich an den Menschenrechten ausrichtet. ♦
Tatjana Binggeli war bis vor Kurzem Präsidentin des Schweizerischer Gehörlosenbunds, ab Juli übernimmt sie die Funktion der Geschäftsleiterin. Außerdem kandidiert die 50-Jährige für die Sozialdemokratischen Partei (SP) für den Nationalrat.
Inklusions-Initiative
Ein überparteiliches Komitee hat Ende April in der Schweiz die «Inklusions-Initiative» lanciert: Sie fordert die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Behinderten. Denn Menschen mit Behinderungen werden nach wie vor unter anderem in den Bereichen Wohnen, Bildung, Öffentliche Verkehrsmittel, Kultur, Dienstleistungen und Bauten oft ausgeschlossen. Auch die Ausübung einer beruflichen oder politischen Tätigkeit ist für viele Menschen mit Behinderungen erschwert. Die Initiative fordert ein Ende der Diskriminierung, die in der Bundesverfassung schon seit dem Jahr 2000 ausdrücklich verboten ist.
Alle Teile der Serie «Inklusion» finden Sie hier.
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