Die Aktion «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» läuft bis am 10. Dezember. In Veranstaltungen und Kampagnen in der ganzen Schweiz wird fürs Thema Feminizid sensibilisiert. Der Berner Sozialarbeiter Christoph Jäggi zeigt auf, wie wichtig in diesem Zusammenhang die Täterarbeit ist.
Feminizid ist der Mord an Frauen oder an Menschen, die als Frauen gelesen werden, zum Beispiel Transpersonen. An den «16 Tagen gegen Gewalt an Frauen», die dieses Jahr zum 15. Mal stattfinden, steht dieses Thema im Fokus. Feminizide sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Normalerweise gehen den Taten Gewalt, Drohungen, Stalking oder Ähnliches voran. In der Schweiz gibt es jedoch nicht genügend Angebote für Menschen, die sich in einer Bedrohungssituation befinden. Es wären aber auch vermehrte Präventivmaßnahmen nötig. Zum Beispiel in Form von Arbeit mit Tätern oder potenziellen Tätern. Christoph Jäggi, Sozialarbeiter bei der Fachstelle Gewalt Bern, ist überzeugt: Man kann lernen, gewalttätiges Verhalten zu ändern. Jäggi ist darauf spezialisiert, Männer bei diesem Prozess zu begleiten. Im Interview mit «Tentakel» spricht er über Rollenbilder, über Forderungen an die Politik sowie über die Notwendigkeit, sich der eigenen Bedürfnisse bewusst zu werden.
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In der Schweiz gibt es keine strafrechtliche Definition von Feminizid, der Ständerat hat entsprechende Vorstöße wiederholt abgelehnt. Welche Konsequenzen hat dies in der juristischen Behandlung solcher Straftaten?
Christoph Jäggi: Es werden nicht alle Feminizide als solche betrachtet. Wenn man eine Gewalttat an einer Frau als «Mord» oder «Totschlag» klassifiziert, macht man damit Feminizide unsichtbar. Bei der Forderung nach einer begrifflichen Spezifizierung geht es in erster Linie darum, den Tatbestand «Feminizid» als solchen wahrzunehmen und zu benennen. Mord und Totschlag von Männern an Frauen sollen nicht länger als Beziehungsdramen bezeichnet werden, sondern als das, was sie wirklich sind: das traurige Ergebnis von Macht, Kontrolle und der Ausübung von physischer Gewalt.
Sie begleiten in Ihrer Arbeit potenzielle Täter. Inwiefern ist das eine wichtige Präventionsmaßnahme?
Ein Feminizid passiert nicht von einem Tag auf den anderen, sondern hat immer eine Vorgeschichte. Im Vorfeld findet in der Regel bereits über längere Zeit gewalttätiges Verhalten in verschiedenen Formen statt. Tatsächlich melden sich oft Leute bei uns, die bei sich selbst grenzüberschreitendes Verhalten festgestellt haben und darüber erschrocken sind. Dieses Erschrecken ist typisch. Darauf folgt oft die Reue, man schwört, dass es nie wieder vorkommen wird – bis es zur zweiten Anwendung von Gewalt kommt, und so weiter. Man spricht dabei von einer Gewaltspirale.
Wie können Sie Betroffenen in diesem Fällen helfen?
In der Beratung gehe ich oft so vor, dass wir uns die entsprechende Situation wie einen Film ansehen und gemeinsam analysieren: Was ist passiert, welche Bedürfnisse sind nicht erfüllt worden, so dass schließlich auf Gewalt zurückgegriffen wurde? Was sollte mit der Gewaltanwendung erreicht werden, und wie wäre diese zu vermeiden gewesen? Denn es gibt praktisch niemanden, der sagt: «Ich finde es legitim, meine Frau oder mein Kind zu schlagen.» Eigentlich will jeder ein guter Vater sein, ein gutes Familienleben haben.
Feminizide sind das traurige Ergebnis von Macht und Kontrolle.
Wie kann man aus der Gewaltspirale hinausfinden?
Grundsätzlich sage ich immer: Gewalttätiges Verhalten ist nicht naturgegeben oder Teil der Persönlichkeit. Es ist eine Verhaltensweise, und die kann man verändern. Deswegen versuche ich auch immer, die Menschen mit ihrem Verhalten zu konfrontieren und sie nicht als Personen abzulehnen. Für gewaltausübende Menschen stellt die Situation meist auch eine große Belastung dar, und sie fühlen sich einsam. Denn praktisch niemand geht zu seinen Freunden und sagt: «Ich komme nicht klar, ich schlage meine Frau.» In der Beratung ist es deshalb wichtig, klarzustellen: Es geht auch anders. Man kann lernen, in Konfliktsituationen anders zu reagieren. Oft geht es auch darum zu lernen, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken. Darin sind Männer klassischerweise nicht so gut, und die Unterdrückung dieser Bedürfnisse kann dazu führen, dass eine Situation eskaliert.
Gibt es in der Schweiz genügend Anlaufstellen wie die Fachstelle Gewalt Bern, an die sich Gewaltbetroffene sowie Gewaltausübende wenden können?
Es gibt ganz klar zu wenig Angebote, vor allem zu wenig anonyme und niederschwellige. Das ist eine verpasste Chance, wenn man bedenkt, was mit guter Präventivarbeit alles erreicht werden kann. Unter dem Strich ist es einfach: Weniger Täter gleich weniger Opfer. Doch der Weg dahin ist komplex. Es braucht Sensibilisierungsarbeit, zum Beispiel die Diskussion um Rollenbilder oder um Gleichstellung. Das verunsichert viele Männer, weil sie Angst haben, Privilegien zu verlieren. Grundsätzlich sehe ich diese Verunsicherung aber als etwas Gutes, weil sie bedeutet, dass in der Gesellschaft etwas in Bewegung gerät. Doch dieser Prozess braucht seine Zeit, und er ist nicht gratis. Da sehe ich es schon auch als die Aufgabe des Staates an, entsprechende Angebote zu schaffen.
Was sind Ihre Forderungen an die Politik?
Grundsätzlich denke ich, dass es ein Zusammenspiel von behördlich verordneten Maßnahmen, Sozialarbeit und Therapie geben muss. Vor wenigen Jahren hieß es noch: Häusliche Gewalt ist Privatsache. Es hat recht lange gedauert, bis wir an den Punkt gekommen sind, an dem man verstanden hat, dass es den Staat durchaus etwas angeht, wenn in den eigenen vier Wänden Kinder und Frauen misshandelt werden. In dem Sinn sind wir schon einen Schritt weitergekommen. Doch man muss auch bedenken, dass es sogar wirtschaftlich viel teurer kommt, Täter erst dann zu bestrafen, wenn es zu spät ist. In diesem Sinn erwarte ich schon, dass der Staat in die Präventionsarbeit, in die Früherkennung investiert. Das beginnt in den Schulen, zum Beispiel ganz einfach indem man mit Jungs oder jungen Männern darüber diskutiert, was der Unterschied zwischen einem Kräftemessen auf dem Pausenplatz und der Anwendung von Gewalt bedeutet. ♦
Veranstaltungen
«Feminizid im Berufsalltag bei Behörden und in der Therapie»
7. Dezember, 18.30 Uhr, Pfarrei Dreifaltigkeit, Taubenstrasse 4, Bern
Die Fachstelle Gewalt Bern führt im Rahmen der «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» ein Podiumsgespräch zum Thema «Feminizid im Berufsalltag bei Behörden und in der Therapie» durch. Dabei diskutieren behördliche Fachpersonen und Personen aus dem therapeutischen Kontext die Gefahren und Einschätzungen zum Thema Femizid. Unter anderem Leena Hässig Ramming, Fachpsychologin für Klinische Psychologie und Rechtspsychologie FSP, Géraldine Kipfer, stellvertretende leitende Staatsanwältin von Bern, und Franziska Voegeli, KESB Bern.
Podium «Feminizid»
5. Dezember, 18 Uhr, Unitobler (Raum F-122), Lerchenweg, Bern
In dieser Veranstaltung der Studierendenschaft der Uni Bern wird über verschiedene Formen von Gewalt an Frauen gesprochen. Mittels aktueller Fälle soll eine Annäherung an Forschung und Praxis geschehen sowie Einblick in Recht und Opferschutz gewährt werden.
Online-Veranstaltung «Gemeinsam gegen Feminizide»
5. Dezember, 19 Uhr
Die feministische Friedensorganisation cfd organisiert eine Veranstaltung zur Frage «Wie können wir uns gemeinsam für eine gewaltfreie Gesellschaft einsetzen?» Diskussion zum Umgang mit Feminiziden und den feministischen Einsatz gegen geschlechtsspezifische Gewalt in verschiedenen Ländern. Mit Farah Raissi (Algerien), Rafah Anabtawy (Israel) und Nadia Brügger (Schweiz).
Anmeldung unter 16tage@cfd-ch.org
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