Mensch. Gesellschaft. Meer.

Aus dem Tagebuch eines Tintenfischs #1

Herzflattern hoch drei

Ein Meerestier tief unten im Wasser, das sich in seinem Zuhause von den Unannehmlichkeiten der letzten Wochen kuriert. Puls? Allmählich normal. Zustand? Wird besser. Wer ist es? Lesen Sie selbst.

Der Versuch eines Selfies. Foto: cocoparisienne

Gugug, ich bin Norbert. Norbi, für diejenigen, die mich von klein auf kennen. Was nicht mehr so viele sind, weil sie entweder im Maul eines großen Fisches oder als Calamares im Teller gelandet sind. Tja, unser Schicksal, wir sind halt gefragt.

Sie lernen mich übrigens nicht in meiner besten Verfassung kennen. Vor zwei Wochen hatte ich nämlich Glück: Im letzten Moment konnte ich mich in meine Höhle zurückziehen, als der Hai mir folgte. Aber, Mist!, einen Tentakel erwischte er dann doch, dieser fiese Hai. Ich habe ihn gesehen, wie er da herumkurvte, und dachte noch: Hoho, du erwischst mich nicht, meine Höhle liegt schön nah. Ich sauste los, aber dieses Ungetüm roch mich sofort und zischte mir nach. Uff. Und biss mich wie ein Wilder. Was soll man da machen. Das tat weh.

Jetzt geht es mir schon besser. Mein Arm hat angefangen nachzuwachsen. Er ist natürlich mini, also klein, im Vergleich zu den anderen sieben Tentakel, die ich habe. Mir ist übrigens plötzlich klar geworden, ich hatte ja auch genug Zeit zum Nachdenken während der Genesung, dass sich bei anderen Tieren verlorene Körperteile nicht nachbilden. Ja ja. Hm, vielleicht finden uns die Menschen deshalb komisch. Oder finden Sie uns nicht komisch? Doch, weil wir nämlich so weich sind, und so gescheit. Haha. Wahrscheinlich fühlen sich die Menschen minderwertig. Ich sehe sie ja oft da im Meer herumschwimmen, wie schnell denen die Puste ausgeht, hoho.

Lustig ist, dass sie sich selbst als hochintelligente Wesen betrachten, obwohl es so Vieles gibt, das sie nicht wissen. Vor Kurzem sagte ein alter Freund, der Okti, zu mir: «Hey Norbi, ich habe wieder mal so einen Zweiarmigen seinen Abfall ins Meer werfen sehen. Ich kann mir das selbstausrottende Verhalten dieser Wesen einfach nicht erklären?»

Also mich erstaunt es nicht, verfügen sie doch nur über ein einziges Hirn und ein einziges Herz. Und ihr Instinkt ist vollkommen verkümmert. Von einem Wesen auf dieser Entwicklungsstufe kann man kaum erwarten, dass es die planetaren Gesetzmäßigkeiten versteht. Auch leben die Zweiarmigen erst so kurz auf der Erde, dass ihr genetischer Erfahrungsschatz praktisch als bedeutungslos bezeichnet werden muss. Wir Tintenfische dagegen waren praktisch von Anfang an mit dabei und gehörten zu den ersten Tieren, die sich auf der Erde entwickelt haben – etwa 400 Millionen Jahre vor dem Auftreten des so genannten Homo Sapiens.

Wenn sie nicht an diesem unsäglichen Überlegenheitskomplex leiden würden, könnten die Zweiarmigen einem fast leidtun. Sie müssen jahrelang üben, bis sie sich selbständig fortbewegen können, und selbst dann fällt ihnen die Koordination ihrer Gliedmassen noch schwer. Kein Wunder, schließlich wird ihre gesamte Mobilität zentral gesteuert. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn ich zusätzlich zu meinem Haupthirn nicht noch ein Hirn in jedem meiner Arme hätte. Ich meine, ich habe neun Hirne. «Norbi, du», sagt Okti zu mir, «wir müssen nachsichtig sein. Ich denke nicht, dass der Mensch lang genug überlebt, um sich noch entscheidend weiterzuentwickeln.»

Dennoch hat kürzlich die Einsichtigkeit einer seiner Unterspezies für Erstaunen gesorgt. Die so genannten Briten haben Tintenfische sowie einige andere Meeresbewohner offiziell als fühlende Wesen eingestuft. Damit haben sie einer neuen Erkenntnis Rechenschaft getragen, laut der wir fähig sind, Schmerz, Hunger, Wärme und Kälte sowie Freude und Trost zu empfinden. Aber hallo? Ich meine, wir haben drei Herzen. Und wir verfügen über 500 Millionen Nervenzellen. Natürlich fühlen wir! Im Übrigen, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, waren mehr als 300 wissenschaftliche Studien nötig. Das ist sogar für Einhirnler bedenklich.

Eh ja. Als mich der Haifisch angriff, hatte ich Herzflattern, meine Herzen rasten wie wild. Klar, hoch drei, hoho. Aber nun gut, ich habe mich erholt, Norbi is back. Es fehlen noch ein paar Wochen bis mein achtes Tentakel komplett nachgewachsen ist, aber alles kommt gut. In diesem Sinne grüsse ich zuversichtlich: Norbi et orbi. ♦

Aufgezeichnet von Camilla Landbø und Nicole Maron

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