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Lateinamerika

Ungleichheit, Gewalt und Autoritarismus

Weltweit ist die Demokratie im Abwind. Schuld daran ist die unverhältnismäßige Zunahme von Ungleichheit und Armut. Eine politische Analyse.

Gestürmt: Kongressgelände in Brasilia. Foto: MrPax

Putschversuch in Brasilien: Zehntausende Anhänger des rechtsgerichteten Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro stürmten diesen Januar das Kongressgelände in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia. Dieser Angriff ist nebst jenem aufs US-Kapitol von Donald Trumps Anhängern vor zwei Jahren eines der wichtigsten Beispiele für den Rückschritt der Demokratie in der Welt. Immerhin ist Brasilien eines der wichtigsten Länder Lateinamerikas und die USA sind das wirtschaftlich, und militärisch mächtigste Land der Welt.

Der Zerfall der Demokratien äußert sich allerdings nicht nur in rechtsextremen, volks- und frauenfeindlichen, autoritären, ultraliberalen, LGBT-feindlichen Parolen und dergleichen. Sondern auch in populistischen, angeblich «linken» sowie antidemokratischen, autoritären und extrem korrupten Regierungen. Solche sind in Nicaragua, Venezuela, Argentinien und fast allen anderen lateinamerikanischen Ländern zu finden. Mit Ausnahme von Chile, Uruguay und Kolumbien oder Honduras, wo diesen Januar die fortschrittliche Präsidentin Xiomara Castro gewählt wurde.

In Kolumbien ist die Wahl des Linken und ehemaligen Guerilleros Gustavo Petro vom letzten Juni ein positiver Meilenstein. Wie sich das jedoch dort entwickeln wird, muss genau verfolgt werden. Angesichts der aktuellen Ereignisse in Ländern wie Peru, das in sechs Jahren sechs Präsidenten hatte und derzeit nach dem Sturz des ebenfalls linken Präsidenten Pedro Castillo in einem Chaos von Protesten und Repressionen versinkt. Oder in Chile, wo der Linke Gabriel Boric, der 2021 mit großer Mehrheit demokratisch gewählt wurde, derzeit aber mit Attacken der Opposition konfrontiert ist. Sie sind zwar viel weniger intensiv als in Peru, aber deuten darauf hin, dass Boric für den Rest seiner Amtszeit Probleme haben wird. Auch wenn er weiterhin starke Unterstützung in der Bevölkerung genießt.

Auch in Europa Rückschritte

Ein Beispiel für ein Land, das von Gewalt, alltäglicher Kriminalität und Drogenhandel regelrecht beherrscht wird, ist Mexiko. Dort ist die Mordrate nach Angaben des Nationalen Instituts für Statistik und Geografie (Inegi) in den Regierungsjahren des derzeitigen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador weiterhin hoch geblieben: 2018 kam es zu 29 Tötungsdelikten pro 100´000 Einwohner, das sind rund 36´700 Tote. Im Jahr 2021 starben 28 Menschen pro 100´000 Einwohner an einem Gewaltverbrechen, also rund 35´600. Nicht weniger beeindruckend ist die Zahl der ermordeten Journalisten: Das waren 55 im Jahr 2022. Und bei den Parlamentswahlen 2021 kam es ebenfalls zu extremer Gewalt. Genauer genommen: In den Monaten vor dem Wahltag wurden fast hundert Politiker ermordet. Sechsunddreißig der Opfer waren Kandidaten für öffentliche Ämter.

Dieser demokratische Rückschritt ist ebenso in Europa zu beobachten, wo die extreme Rechte in einigen Ländern wie Italien und Ungarn bereits an der Macht ist und selbst in Schweden nun große Bedeutung erlangt hat. In anderen Ländern wie Spanien, Frankreich und England, um nur einige zu nennen, genießt sie große Unterstützung in der Bevölkerung. Dies ist wohl die besorgniserregendste Erkenntnis. Und Brasilien ist in diesem Sinne vielleicht das beste Beispiel dafür: Die Regierung von Jair Bolsonaro verlor zwar die Wahlen gegen den linksgerichteten Luis Ignacio Lula da Silva. Aber sie erhielt 48,2 Prozent der Stimmen. Das Gleiche gilt für die USA, wo Donald Trump weiterhin starken Rückhalt genießt und sich die Republikanische Partei weiterhin auf antidemokratische Positionen zubewegt.

Armut bringt Konflikte

Kurzum, Konservative, Liberale und Populisten gleichermaßen nähern sich, getrieben von dieser Unzufriedenheit der Bürger, zunehmend und je nach Land in unterschiedlichem Maße dem Autoritarismus und der Verletzung demokratischer Regeln an. Die Gründe für diese Entwicklung liegen in der unverhältnismäßigen Zunahme von Ungleichheit und Armut in der Welt: Der jüngste Bericht der Nichtregierungsorganisation Oxfam International zeigt, dass ein Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 2022 ein zusätzliches Vermögen von mehr als 42 Milliarden Dollar angehäuft hat – mehr als doppelt so viel wie die restlichen 99 Prozent der Bevölkerung. Weiter wird berichtet, dass dieses Prozent seit 2020 die Kontrolle über zwei Drittel des Reichtums übernommen hat. Oxfam schätzt, dass das Vermögen der privilegiertesten Minderheit jeden Tag um 2,7 Milliarden Dollar wächst, während die Löhne von fast 1,7 Milliarden Arbeitnehmern unter der Inflationsrate liegen. Einer von zehn Menschen auf der Welt lebt in extremer Armut.

Dieses Problem ist die Wurzel von Konflikten und vom Rückgang der Demokratie weltweit, wofür Lateinamerika ein Beispiel ist: In Argentinien, einem der Länder, das reich an natürlichen Ressourcen und kulturell sowie wissenschaftlich hoch entwickelt ist, sind heute 45 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen; von extremer Armut ganze zehn Prozent.

Im Jahr 1929 brachte eine ähnliche Situation den Faschismus, den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg hervor. Heute ist die Situation anders, weil sie noch ernsthafter ist. Und ein neuer Weltkrieg, für den es bereits Anzeichen gibt, wie in der Ukraine, in Taiwan und anderswo, wäre vielleicht das Ende der Menschheit. Denn dieses Mal wäre er atomar, bakteriologisch, biochemisch.

Im 17. Jahrhundert stellte der italienische Historiker und Philosoph Giambattista Vico fest, dass sich «die menschliche Geschichte in aufeinander folgenden Kreisen entwickelt» … und es scheint, dass wir uns heute in einer Phase des Rückschritts befinden. Das Ende dieser Phase, ob katastrophal oder demokratisch und gleichberechtigt, wird davon abhängen, ob sich Vernunft und Solidarität über menschlichen Egoismus und Gewalt durchsetzen. ♦


Carlos Gabetta schreibt für Tentakel aus Buenos Aires. Dorthin kehrte der Journalist und Buchautor 1984 zurück, nachdem er in den 1970er Jahren wegen der argentinischen Diktatur ins Exil nach Frankreich gehen musste. In Paris arbeitete er unter anderem für die Agentur France. Zuletzt war er Chefredakteur von Le Monde Diplomatique in Buenos Aires.

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