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das Interview

«Schluss mit der Pflästerli-Politik!»

Diese Rentnerinnen gehen bis zum Äußersten: Nachdem die Klage der KlimaSeniorinnen von allen juristischen Instanzen in der Schweiz abgeschmettert wurde, nimmt sich nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem emblematischen Fall an. Auf der Anklagebank sitzt die Schweizer Regierung. Grund: Sie verletzt das Menschenrecht auf Leben und Gesundheit, weil sie zu wenig gegen den Klimawandel unternimmt.

Die KlimaSeniorinnen Oda Müller (links) und Rosmarie Wydler-Wälti im Botanischen Garten in Zürich. Foto: Nicole Maron

Mehr als 2000 Frauen, Durchschnittsalter 73, Entschlossenheit und Durchhaltevermögen – das sind die KlimaSeniorinnen. «Es ist Ihre Pflicht, unsere Leben zu schützen», schrieben sie in einem Brief an den Bundesrat. «So ist es in unserer Verfassung und in der europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Dennoch wurden Sie nicht genügend tätig. Das ist der Kern unserer Klimaklage.» Die KlimaSeniorinnen fordern gemeinsam mit Greenpeace eine unabhängige gerichtliche Überprüfung der Schweizer Klimapolitik und bessere Maßnahmen zum Klimaschutz. Nachdem die Klage weder vom Bundesverwaltungsgericht noch vom Bundesgericht angenommen wurde, entschlossen sich die Frauen, einen Schritt weiterzugehen – an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Und siehe da: Dort wurde der Fall als prioritär eingestuft und wird nächsten Mittwoch, 29. März, in der Großen Kammer verhandelt. Das Urteil ist rechtlich bindend und wird weit über die Schweiz hinaus Auswirkungen haben: Alle 46 Staaten Europas sind an die Rechtsprechung des Menschenrechtshofs gebunden.

Co-Präsidentin Rosmarie Wydler-Wälti und Vorstandsmitglied Oda Müller sprechen gern über ihr Engagement bei den KlimaSeniorinnen und den Weg, den sie in den letzten Jahren gegangen sind. Das Gespräch möchten sie am liebsten im Botanischen Garten in Zürich beginnen. Nicht nur, weil man da – passend zum Thema – mitten in der Stadt im Grünen ist, sondern auch, weil die angenehm geheizte Wohnung von Oda Müller nur wenige Gehminuten entfernt liegt. Schließlich ist es trotz Klimawandel noch nicht so warm, dass man allzu lang draußen verharren möchte.

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Sie klagen die Schweiz vor einem internationalen Gericht an. Werden Sie manchmal für verrückt erklärt?

Rosmarie Wydler-Wälti: Oh ja. Ich bekomme immer wieder böse E-Mails, natürlich anonym. Ich gehe davon aus, dass sie von alten weißen Männern sind. Einer schrieb: «Euch hat’s wohl ins Gehirn geschissen. Früher hätte man euch auf dem Scheiterhaufen verbrannt.» Doch ich fühle mich dadurch in keinster Weise beleidigt, im Gegenteil. Es ist das schönste Kompliment, das man mir machen kann, denn die Hexen fürchtete man, weil sie starke Frauen waren. Aber auch im engsten Umfeld ist es nicht einfach, unser Anliegen für den Klimaschutz verständlich zu machen. Zum Bespiel gegenüber den Enkelinnen. Oft sage ich nichts, ich will ja nicht immer die strenge Großmutter sein. Allerdings habe ich sie auch schon an eine Klimademo mitgenommen. Das Transparent halten wollten sie nicht, aber als ich am Schluss gefragt habe, ob ich es wieder mit nach Hause nehmen soll, haben sie gesagt: «Lass es ruhig bei uns.» Das werte ich als Teilerfolg.

Oda Müller: Mit dem Moralisieren habe ich schon lange aufgehört. Ich versuche jedoch, Klima- und Nachhaltigkeitsthemen subtil einfließen zu lassen. Zum Beispiel gegenüber dieser einen Freundin, die es unverständlich findet, dass wir den Staat verklagen. Sie ist überzeugt, dass der Bundesrat das Bestmögliche für die Bevölkerung tut. Doch sie hilft trotzdem immer wieder bei unseren Aktionen mit, weil das Engagement fürs Klima ihr an sich schon wichtig ist.

Rosmarie Wydler-Wälti: Das ist auch ein Teilerfolg!

Wir klagen in erster Linie nicht für uns, sondern für unsere Enkelinnen und Enkel.

Was sind die Hauptpunkte Ihrer Klage?

Rosmarie Wydler-Wälti: Die Schutzwürdigkeit von Leben und Gesundheit im Zusammenhang mit der Klimakrise soll als Menschenrecht anerkannt werden. Die Schweiz muss unverzüglich handeln und Maßnahmen ergreifen, damit ein globaler Temperaturanstieg von mehr als 1,5 Grad verhindert werden kann. Dazu gehört, Ziele zur Emissionsreduktion festzulegen. Miteinbezogen sollen im Ausland anfallende Emissionen, die primär aufgrund unseres Konsums entstehen. Außerdem sollen Regelungen für den Finanzplatz Schweiz definiert werden, die auf eine massive Reduktion von klimaschädlichen Finanztransaktionen abzielen.

Ist die Klimakrise nicht ein Thema, das die ganze Bevölkerung betrifft? Warum sind Sie prädestiniert, in dieser Klimaklage als Klägerinnen aufzutreten?

Oda Müller: Uns könnte das Ganze tatsächlich egal sein, denn zu unseren Lebzeiten greifen die Maßnahmen sowieso nicht mehr – selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass das Steuer weltweit sehr schnell und sehr radikal herumgerissen würde. Doch wir klagen ja in erster Linie nicht für uns, sondern vor allem für unsere Enkelinnen und Enkel, und die nachfolgenden Generationen.

Rosmarie Wydler-Wälti: Und doch sind wir gerade auf Grund unserer eigenen Betroffenheit die idealen Klägerinnen. Ältere Frauen sind die Bevölkerungsgruppe, die am meisten von klimatischen Extremen wie zum Beispiel Hitzewellen betroffen sind. Das bestätigen Berichte und Studien des Bundesamts für Umwelt, des Bundesamts für Bevölkerungsschutz sowie der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften. Von allen klimawandelbedingten Todesfällen in Europa stellt die hitzebedingte Sterblichkeit die mit Abstand häufigste Todesursache bei Menschen über 65 Jahren dar. Tatsächlich ist eine unserer Mitklägerinnen gestorben. Ihr war in einem ärztlichen Attest bestätigt worden, dass ihre Lungen- und Kreislaufprobleme mit den Hitzewellen in Zusammenhang gestanden hatten. In diesem Zusammenhang wird Menschen in Altersheimen oft gesagt, sie sollen tagsüber einfach drinnen bleiben, wenn es heiß ist. Doch längerfristig kann es nicht die Lösung sein, dass Seniorinnen und Senioren auf ihr Sozialleben verzichten müssen. Schluss mit der Pflästerli-Politik!

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Das Gespräch wird hitziger, und es ist offensichtlich, dass die beiden nicht nur von einer positiven Zukunftsvision angetrieben werden, sondern auch von Empörung. Auch das Ambiente ist inzwischen wärmer, denn das Gespräch wurde in Oda Müllers Wohnung verlegt, wo es Tee und Gebäck gibt. Zwei Katzen observieren die Situation von Bücherregalen und Dachbalken aus.

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Ihre Klage wurde vom Bundesverwaltungsgericht sowie vom Bundesgericht abgelehnt. Woher nahmen Sie den Mut und die Energie, den Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterzuziehen?

Beide (unisono): Es war so was von klar, dass wir weitermachen.

Weil Sie vollkommen überzeugt sind, dass Sie nicht nur Recht haben, sondern auch Recht bekommen?

Oda Müller: Das hoffen wir sehr. Dass unsere Klage in der Schweiz nicht einmal zugelassen wurde, war zwar nicht vollkommen unerwartet, aber doch eine Enttäuschung. Das Schlimmste war, dass wir ständig das Gefühl hatten, nicht richtig ernst genommen zu werden.

Inwiefern?

Rosmarie Wydler-Wälti: Über unser Argument, dass wir besonders stark von den Auswirkungen der Klimakrise betroffen sind, wurde einfach hinweggegangen. Das Bundesgericht sagte, wir hätten noch sehr viel Zeit zum Klagen, schließlich gehe es uns doch noch gut. Am Bundesverwaltungsgericht hieß es sogar, wir seien nicht stärker betroffen als die Forst- und Tourismusbranche. Die Auswirkungen der Klimakrise auf lebende Menschen wird also verglichen mit den Auswirkungen auf Wirtschaftszweige. Das finde ich besonders tragisch, vor allem angesichts dessen, dass die Schweiz in Bezug auf die Erfüllung der Klimaziele nicht gerade gut dasteht.

Tatsächlich sind die CO2-Emissionen in der Schweiz in den letzten zehn Jahren um 26 Prozent angestiegen, während sie in anderen europäischen Ländern gesunken sind. Was macht unsere Regierung falsch?

Oda Müller: Das Ziel der Schweizer Klimapolitik, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken, reicht nicht aus. Im Vergleich zu anderen Ländern sind die Schweizer Zielsetzungen deutlich niedriger. Zum Beispiel sollen die Emissionen im Inland bis 2030 auf 34 Prozent des Niveaus von 1990 gesenkt werden. Die EU dagegen hat ein Ziel von 55 Prozent festgelegt, Deutschland 65 Prozent und Dänemark sogar 70 Prozent.

Rosmarie Wydler-Wälti: Abgesehen davon ist es ein Nachteil unserer Demokratie, dass es so viele Einsprachemöglichkeiten gibt. Den Leuten gefallen die Windkraftanlagen in den Bergen nicht, also werden sie verhindert. Doch irgendwo müssen wir auch Eingeständnisse machen. Alle öffentlichen Gebäude von Schulen über Spitäler bis zu Verwaltungen müssten mit Solarpanels versehen werden, und bei Neubauten sollte dies Standard sein. Und zwar ab sofort. Doch die Schweiz ist Weltmeister im Abwarten, im Zuschauen was die EU macht und im Bilden von Task-Forces, in denen jahrelang debattiert wird, bevor etwas passiert. Dabei hat man in der Pandemie gesehen: Wenn die Regierung will, kann es schon schnell gehen mit Verordnungen. Wahrscheinlich brauchen wir am Ende eine Ökodiktatur. Denn schließlich geht es auch in diesem Fall um die Gesundheit der Bevölkerung. Doch bis man das versteht, muss es noch viel schlimmer werden. Das Wasser steht uns noch nicht bis zum Hals.

Nicht?

Rosmarie Wydler-Wälti: Kommt darauf an, wie man es anschaut. In Basel will man im Sommer die Restaurants am Rhein bis Mitternacht öffnen, um vom angenehmen mediterranen Klima zu profitieren. In der Schweiz ist es einfach noch zu gemütlich, vorläufig profitieren wir fast vom Klimawandel. Und was anderswo passiert, ist uns eh egal. Es heißt immer, was bringt es schon, wenn wir etwas ändern, wir sind schließlich nur für ein Promille der weltweiten Klimaerwärmung verantwortlich. Doch das ist falsch gedacht. Wir importieren und konsumieren eine Menge umweltbelastender Produkte, die im Ausland produziert werden. Außerdem ist die Schweiz als Sitz von Großkonzernen und Banken ein großer Umschlagplatz von Gütern und Geldern. Wenn die hiesigen Banken mit unserem Geld in fossile Energien investieren, liegt das auch in unserer Verantwortlichkeit.

Es ist möglich, dass wir wieder ans Bundesgericht zurückverwiesen werden.

Dass Ihr Fall in der Großen Kammer des Europäischen Menschenrechtshofs verhandelt wird, ist ein riesiger Erfolg. Welche Hoffnungen und Erwartungen haben Sie im Vorfeld der Anhörung vom 29. März? 

Oda Müller: Wir haben große Hoffnungen, denn unsere Klage könnte zu einem Präzedenzfall für ganz Europa werden. Am gleichen Tag wird in Straßburg auch eine Klimaklage aus Frankreich verhandelt, im Herbst dann ein Fall aus Portugal. Wir sind nicht die einzige zivilgesellschaftliche Bewegung, die einen Staat anklagt. Es kann allerdings sein, dass nur ein Teil unserer Forderungen gutgeheißen wird. Dass alle abgelehnt werden, halten wir dagegen eher für unwahrscheinlich.

Rosmarie Wydler-Wälti: Auf der anderen Seite ist es aber auch möglich, dass wir wieder ans Bundesgericht zurückverwiesen werden. Besser gesagt: Der Europäische Menschenrechtshof könnte dem Bundesgericht den Auftrag geben, unsere Klage anzunehmen und ein Urteil zu fällen.

Wie feiern Sie, wenn Sie gewinnen?

Rosmarie Wydler-Wälti: Das haben wir noch nicht besprochen. Ich denke, wir laden alle, die mitgeholfen haben, auf den Bundesplatz ein und machen ein großes Fest.

Wie hat sich Ihr Leben verändert, seit sie sich bei den KlimaSeniorinnen engagieren?

Oda Müller: Ich habe ein ganz anderes Bewusstsein entwickelt, und das wirkt sich auf verschiedenen Ebenen aus. Ich habe mein Auto verkauft, fliege nicht mehr und überlege mir drei Mal, ob ich etwas tatsächlich brauche oder nicht.

Rosmarie Wydler-Wälti: Diese Überlegungen sind auch bei mir in Fleisch und Blut übergegangen. Ich habe seit Jahren praktisch nichts mehr für mich gekauft. In unserem Alter hat man doch eigentlich schon alles und braucht nicht mehr so viel Zeug. Und bei den alten Kleidern muss man nur lang genug warten, dann kommen sie wieder in Mode. Ich merke aber, dass das für die jüngeren Generationen schwieriger ist, die erst gerade beginnen zu konsumieren.

Dürfen wir dennoch Hoffnung auf die Generation der Klimajugend setzen?

Rosmarie Wydler-Wälti: Schon. Doch es engagieren sich ja längst nicht alle Jungen in diesem Bereich. In den Schulen wird die Klimakrise offenbar auch nicht wirklich thematisiert, wie meine Enkel erzählen. Einer von ihnen wollte jedoch mit seiner Lehrerin und der ganzen Klasse an eine Klimademo in Basel. Sie haben Plakate gemalt und freuten sich, doch dann hat die Schulleitung der Lehrerin die Teilnahme verboten, sie hat einen Rüffel bekommen, musste beim Erziehungsdepartement vorsprechen und wurde schließlich abgemahnt. Und dies, obwohl bis auf zwei Kinder alle die Erlaubnis der Eltern hatten und unbedingt hingehen wollten. Sie haben dann mich und meinen Mann gebeten, sie zu begleiten, was wir auch taten. Die Medien haben unseren ungewöhnlichen Zug fotografiert, doch eigentlich interessierte sie vor allem die Teilnahme meines Mannes, der 16 Jahre lang im Basler Großrat war. Er sagte zu den Journalisten: «Hier, meine Frau ist die Co-Präsidentin der KlimaSeniorinnen», aber das interessierte sie herzlich wenig. Überhaupt ist es erstaunlich, wie wenig die Deutschschweizer Tagespresse über uns berichtet. Es ist, als ob man der Klimaklage nicht allzu viel Bedeutung zumessen wollte, warum auch immer. Vielleicht eben doch, weil es ältere Frauen sind, die hier die Sache in die Hand nehmen?

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Hier ist sie wieder, die Empörung. Und ein synchrones Kopfschütteln. Gleichzeitig ein bekräftigender Blick zwischen den beiden Seniorinnen, der so etwas ausdrückt wie: «Auf in den Kampf! Wer uns unterschätzt, ist selber Schuld.» ♦

www.klimaseniorinnen.ch

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