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Interview mit Therapeutin Katrin Meier

«Lasst uns Januar-Löcher schaffen!»

Gibt es das Januarloch und die dazugehörende Januarsdepression? Oder bilden wir uns das ein? Und rutschen deswegen mit Jahresstart in eine Lethargie. Die 48-jährige Psychotherapeutin Katrin Meier aus Bern wünscht sich viele Januar-Löcher das ganze Jahr durch.

Foto: Ryan McGuire

Nun, gibt es dieses Januarloch, das viele fürchten?
Katrin Meier: Von einem Loch würde ich nicht sprechen, eher von einer ruhigen Zeit, die im Kontrast zu den festlichen Aktivitäten steht. Man hat Zeit und Raum, sich nach innen zu wenden oder ist gezwungen, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Depressionen oder depressive Verstimmungen können somit sichtbar werden oder auch auftreten, weil der Wechsel oder Umbruch in eine ruhige Zeit zur Belastung werden kann. Von Einbildung würde ich also nicht sprechen.

Was genau ist belastend?
Nun, das Weihnachtsfest verkommt nicht selten zu einem materialistischen Fest, das emotional aufgeladen wird. Daher ist die Weihnachtszeit für nicht wenige Menschen anstrengend. Selten werden Wünsche und Sehnsüchte nach Zugehörigkeit und Harmonie erfüllt. Die Spannung entlädt sich, es gibt Enttäuschungen – zurück bleibt Ernüchterung. Ich kenne viele Menschen, die froh sind, wenn diese Tage vorbei sind.

Und dann kommt noch Silvester!
Ja, ist Weihnachten vorbei, steht der Jahreswechsel vor der Türe. Eine Zeit, um zurückzublicken, innezuhalten, über die Bücher zu gehen und sich Vorsätze fürs neue Jahr zu nehmen. Da kann schon Einiges hochkommen, das lange zurückgehalten wurde.

Und das jedes Jahr wieder. Muss das sein?
Grundsätzlich finde ich das sinnvoll, immer wieder nach innen zu horchen. Denn dort finden wir Antworten auf unsere Fragen, aber auch Zugang zu unseren Selbstheilungskräften. Leider beobachte ich nicht selten, dass viele Menschen verlernt haben, sich um sich zu kümmern, auf sich zu hören und eigenverantwortlich mit ihren Bedürfnissen, Sehnsüchten und Wünschen umzugehen.

Die Komfortzone ist ein Schweinehund, nicht wahr?
Es ist wichtig, dass wir immer mal wieder aus unserer Bequemlichkeit, aus der Komfortzone heraustreten. Nur so können wir uns weiterentwickeln. Das ist manchmal anstrengend und bedrohlich, doch gleichzeitig fühlt es sich lebendig und stimmig an.

Und das Loch im Portemonnaie nach diesen vielen Ausgaben während der Festtage, löst das ebenfalls Angst und Druck aus?
Ich glaube nicht, dass das finanzielle Loch hauptverantwortlich für die schwere Stimmung ist. Ein leeres Portemonnaie kann belastend sein, der Umgang damit hängt jedoch von der eigenen Lebenseinstellung ab. Schließlich zeigt sich das Januarloch nicht nur bei den Menschen, die weniger Geld zur Verfügung haben.

Hat die Coronakrise zusätzlich etwas verändert, wenn es darum geht, in ein «Loch» zu fallen?
Ich glaube, die letzten drei Jahre Pandemie haben diese Dynamik des Verstimmtseins akzentuiert. Die Diskrepanz zwischen unseren Bedürfnissen und der Lebensrealität eines fremdbestimmten, durchgetakteten Alltags mit andauernder Reizüberflutung und einer Spaltung der Menschen hinsichtlich vieler Themen zeigt zunehmend auf, dass da etwas grundsätzlich schiefläuft.

Kann man sagen, dass im Januar mehr Leute mit einer Therapie starten wollen?
Ich würde fast sagen, dass seit Beginn der Pandemie-Maßnahmen kaum noch eine Saisonalität zu erkennen ist. Die Anfragen nach Hilfe nehmen seit rund zwei Jahren kontinuierlich zu.

Trotz allem, wie sollen wir dem Januarloch begegnen?
Ich kann allen Menschen nur empfehlen, sich durchs Jahr hindurch regelmäßig Auszeiten zu nehmen, sich Fragen zu stellen wie «Was macht Sinn?» oder «Wie soll es weiter gehen?». So begegnen wir Weihnachten und Neujahr vielleicht etwas ruhiger, gelassener und mit weniger Erwartungen und können dann etwas konstruktiver mit dem Januarloch umgehen. Kurzum: Lasst uns das ganze Jahr durch Januar-Löcher schaffen, um immer wieder eine Reise zu uns selbst zu machen. ♦

 


Katrin Meier

Katrin Meier ist Fachpsychologin für Psychotherapie. In Bern führt sie ihre eigene Praxis und auf dem Land nahe der Schweizer Hauptstadt lebt sie.

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