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Migration

Massengrab Mittelmeer

Überall auf der Welt werden die Mauern höher und höher. Doch eine der tödlichsten Grenzen ist das Mittelmeer. Die Online-Plattform «Missing Migrants Project» dokumentiert die Zahl der Toten seit 2014 möglichst umfassend. Außerdem hilft sie Familien, deren Angehörige auf der Flucht verschwunden sind.

© Missing Migrants Project

In nur sieben Jahren, von 2014 bis Ende 2021, starben schätzungsweise 50’000 Menschen auf der Flucht. 29’000 davon beim Versuch, nach Europa zu gelangen. Die Dunkelziffer dürfte jedoch viel höher liegen. Denn hunderte, wenn nicht tausende von Menschen verschwinden, ohne dass jemand sie zählt. Zum Beispiel diejenigen, die aus dem Meer geborgen und nicht identizifiert werden können. Sie tauchen in den offiziellen Statistiken genauso wenig auf wie diejenigen, deren Tod im Zusammenhang mit Zwangsausschaffungen steht.

Die Online-Plattform Missing Migrants Project der Internationalen Organisation für Migration (IOM) dokumentiert diese Fälle so umfassend wie möglich. Das Projekt wurde ins Leben gerufen, weil die offiziellen Angaben zur Zahl der Toten und Vermissten widersprüchlich waren, insbesondere nach dem Schiffsunglück vor der Insel Lampedusa von Oktober 2013. Mitfinanziert wird die Plattform unter anderem von den Regierungen von Deutschland, Großbritannien und der Schweiz. Allerdings wird explizit darauf hingewiesen, dass die IOM die alleinige Verantwortung für den Inhalt der Website trägt und diese nicht unbedingt die Ansichten dieser Regierungen widerspiegelt.

Tödliche Zwangsausweisungen

Gemäß dem aktuellsten Bericht des Missing Migrants Project starben letztes Jahr 5684 Menschen auf den Migrationsrouten nach und innerhalb Europas. Allein beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, registrierte die Organisation 2836 Todesfälle und verschwundene Personen, was einen deutlichen Anstieg gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Besonders alarmierend sind die 1532 Todesfälle auf der Route von Westafrika zu den Kanarischen Inseln. Dabei handelt es sich um die höchste Zahl seit 2014.

Missing Migrants Project ist zurzeit die einzige frei zugängliche Datenbank in diesem Bereich. Darüber hinaus werden auf der Online-Plattform Berichte, Zusammenfassungen und Infografiken mit Risikoanalysen für jede Region der Welt veröffentlicht. Auf der Website heißt es: «Die gesammelten Daten zeugen von einem der größten politischen Versäumnisse der heutigen Zeit. Die IOM fordert die sofortige Bereitstellung sicherer, humaner und legaler Migrationsrouten.» Und zwar nicht nur übers Mittelmeer. Auch in anderen Regionen Europas wurde im vergangenen Jahr ein Anstieg der Todesfälle verzeichnet: an der Landesgrenze zwischen der Türkei und Griechenland dokumentiert die IOM 126 Todesfälle, in den westlichen Balkanstaaten 69, am Ärmelkanal 53 und an der Grenze zwischen Belarus und der EU 23. Hinzu kommen 17 Todesfälle von Ukrainern, die vor dem Krieg in ihrem Land flohen.

Die tiefe Identifizierungsrate der Migranten und Migrantinnen in Europa ist besorgniserregend.

Doch das ist noch nicht alles. Aus verschiedenen Zeugenaussagen von Überlebenden geht hervor, dass mindestens 252 Menschen bei Zwangsausweisungen durch die europäischen Behörden ums Leben gekommen sind. Die IOM räumt ein, dass diese Fälle auf Grund von fehlender Transparenz und der hohen Politisierung solcher Ereignisse nicht vollständig überprüfbar sind. Nicht weniger besorgniserregend ist die tiefe Identifizierungsrate der Migrantinnen und Migranten in Europa. Mehr als 17’000 der Menschen, die zwischen 2014 und 2021 auf dem Weg nach oder innerhalb von Europa starben, wurden ohne Angaben zu ihrem Herkunftsland registriert. Hinter jedem einzelnen von ihnen steht eine Familie, die verzweifelt nach ihren Angehörigen sucht.

Das Missing Migrants Project hilft deshalb auch Menschen, die nach ihren Verwandten suchen. «Die Auswirkungen des Todes und des Verschwindens von Migranten auf die zurückbleibenden Familien sind tiefgreifend und komplex, und es werden dringend Lösungen benötigt, um die vielen unerfüllten Bedürfnisse der Familien zu erfüllen», heißt es auf der Website. ♦

www.missingmigrants.iom.int 


Sergio Ferrari, argentinischer Journalist und Buchautor mit Sitz in Bern, schreibt für Tentakel sowie für diverse Medien in Europa und Lateinamerika, unter anderem für Le Courier (Schweiz), die Nachrichtenagentur ALAI (Ecuador), Sur America Press (Schweden) und El Mercurio (Spanien).

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