Mensch. Gesellschaft. Meer.

Die Geschichte von Zerins Flucht #1

Mutter, hab keine Angst

Zerin wurde in der Türkei verfolgt und vertrieben – doch mit ihrer Flucht in die Schweiz hat sie es geschafft, ihr Leben und das ihrer Kinder zu retten. Die Biographie «Mutter, hab keine Angst» verwebt eine Geschichte der Flucht mit dem politischen Kontext des kurdisch-türkischen Konflikts und zeigt den Umgang mit Minderheiten auf.

Foto: Tuna Ölger

Der Schnee blieb lange liegen in Araschka, manchmal fast sechs Monate. Und dann, eines Morgens, wenn der letzte Rest geschmolzen war, schlich langsam, langsam dieser Duft von irgendwoher in ihr Dorf, dieser Duft von Blumen, der sie jedes Jahr von neuem überwältigte. Wie eine Explosion war er, von Tag zu Tag wurde er stärker, und gleichzeitig begann sich das Land grün zu verfärben, so schnell, dass Zerin glaubte, zusehen zu können. Wenn sie die Zicklein auf die kleine Weide vor dem Haus brachte und das Gras unter ihren nackten Füssen spürte, sog sie den Duft tief in ihre Lungen.

Doch nicht nur sie – es gab niemanden, den es im Haus hielt, wenn sich endlich der Frühling ankündigte. Das ganze Dorf strömte hinaus auf die Felder, und es war, als hätte das Leben eben erst begonnen. Die Nachbarn riefen einander Grüße und gute Wünsche zu, über die Straße und sogar über den Bach hinweg, und die Kinder spielten draußen. Aus Erde und Schlamm formten sie Autos, Figuren und kleine Häuser. Zerins Lieblingsspiel war aber das Steinetürmen. Zwei Gruppen traten dabei gegeneinander an und versuchten, den Turm der Gegner – neun aufeinandergeschichtete Steine – mit Würfen zu zerstören. Gelang dies, stoben die Verlierer auseinander, und die Sieger versuchten sie einzufangen.

Zerins Schuld bestand hauptsächlich darin, Kurdin zu sein.

Doch der Frühlingsduft verhieß noch etwas viel Besseres als alle Spiele zusammen: Er verhieß, dass es nicht mehr lange dauerte, bis sie mit den Tieren auf die Alp zogen. Das war die schönste Zeit des Jahres. Das ganze Dorf packte sein Hab und Gut zusammen, lud es auf die Rücken der Esel und Pferde, und dann ging es los. Fast eine Woche dauerte es, bis sie auf der Alp ankamen, und Zerin kam es vor wie die Reise in ein fernes, verheißungsvolles Land. Später dachte sie voller Wehmut an die fernen, schönen Tage auf der Alp. In ihrer Zelle hing ein Bild von einem Bauernhof, mit Kühen und saftigen grünen Wiesen. Während der sieben Monate, die sie im Gefängnis verbrachte, war das Bild ihr Rettungsanker. «Noch einmal dorthin gehen können, wo es so aussieht», dachte sie, «noch einmal die Alpen sehen!»

So schaffte sie es, manchmal ein paar Minuten lang die Realität zu vergessen. Die Realität, in der ihr ganzer Körper schmerzte, weil er überall die Spuren der Folter trug. Die Realität, in der sie nur Brot essen konnte, wenn sie es in der Suppe aufweichte, weil sie fast keine Zähne mehr im Mund hatte. Die Soldaten hatten sie ihr bei ihrer Festnahme herausgeschlagen. Den linken Arm konnte sie seit den Befragungen in der Untersuchungshaft nicht mehr heben. Denn Verdächtige zu befragen hiess in der Türkei nichts anderes als sie zu foltern, bis sie die Aussagen unterschrieben, die man für sie vorbereitet hatte. Auch wenn man, wie Zerin, weder lesen noch schreiben konnte.

Es spielte keine Rolle, dass sie unschuldig war. Was eine Rolle spielte, war allein, dass die staatlichen Sicherheitskräfte ein Auge auf sie gerichtet hatten. Ein Auge und die Läufe ihrer Waffen. Zerins Schuld bestand hauptsächlich darin, Kurdin zu sein. Das war seit der Gründung der Türkischen Republik 1923 ein Vergehen, für das Millionen von Menschen büßen mussten.

•••

Die ersten zehn Tage in der Schweiz verbrachten Zerin und ihr Sohn Rohat im Empfangs- und Verfahrenszentrum Basel. Ihre Fingerabdrücke wurden registriert, und man händigte ihnen ausweisähnliche Papiere aus. Da das Dossier ihrer Anhörung in Ankara vorlag, ging es in ihrer Befragung in erster Linie darum, wie sie in die Schweiz gekommen waren. Dadurch erhofften sich die Behörden, mehr Informationen über Fluchtrouten und allfällige Schlepper zu erhalten.

Zum Zeitpunkt dieser Befragung war Zerin erschöpft und hatte starke Zweifel, ob es richtig gewesen war, hierher zu kommen. Die Zustände im Empfangs- und Verfahrenszentrum erinnerten sie an ihre Zeit im Gefängnis. Zwanzig Personen schliefen in einem Raum, und nachts war es ein ständiges Hin und Her. Die eine ging zur Toilette, die andere versuchte ihr Kind zu beruhigen, wieder andere unterhielten sich bis in die Nacht hinein. Das Essen war zwar nicht schimmlig und von Würmern zerfressen wie im Gefängnis, doch es war Zerin fremd. Oft schwamm es in einer Sauce, deren Geruch allein ihr den Magen umdrehte. Hunger verspürte sie keinen, und so nahm sie zehn Tage lang nur das Frühstück zu sich. Trotzdem hatte sie die ganze Zeit Bauchschmerzen. Von den vielen Sprachen, die im Zentrum gesprochen wurden, war ihr Kopf ganz wirr. Als ihr Zimmer bei einer Schlägerei von Polizisten mit Hunden gestürmt wurde, wurden ihre Knochen weich wie Traubensirup, und sie begann am ganzen Körper zu zittern. Das letzte, was sie sah, war ein dunkler Schleier, der sich vor ihren Augen zusammenzog. ♦

Fortsetzung folgt nächsten Montag, 10. April.


Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Buch «Mutter, hab keine Angst. Die Geschichte von Zerins Flucht» von Nicole Maron. Zehn und elf Verlag 2014. ISBN: 978-3-905769-37-1

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