Mensch. Gesellschaft. Meer.

Toby Obi #4

Aus der Sicht, aus dem Sinn

Wenn ich schaue oder lese, sehe ich auf der linken Seite nicht alles. Das hat damit zu tun, dass ich einen Neglect habe – eine Aufmerksamkeitsstörung einer Körperhälfte.

Foto: David Fürst

Ich möchte euch heute ein wenig vertraut machen mit dem sehr verbreiteten Symptom Neglect. Es tritt sehr häufig nach Schlaganfällen und Hirnblutungen auf. Aufgrund eines Unfalls bin ich als Hirnverletzter selbst stark von einem Neglect betroffen.

Neglect kommt aus dem Lateinischen vom Wort «neglegere» und bedeutet: vernachlässigen. Der Neglect ist eine neurologische Aufmerksamkeitsstörung einer Körperhälfte. Und zwar wird immer die gegenüberliegende Körperseite der Hirnverletzung nicht mehr richtig wahrgenommen. In meinem Fall: Meine rechte Gehirnhälfte ist verletzt, den Neglect habe ich also auf der linken Körperseite.

Sämtliche Wahrnehmungsreize können von einem Neglect betroffen sein. Nicht nur also was man sieht, kann beeinträchtigt sein, sondern auch was man hört, spürt, fühlt… Vielfach bildet sich diese Wahrnehmungsstörung wieder zurück, aber auch der Verbleib wie bei mir ist nicht selten.

Mir wurde jetzt auch klar, warum mein Orientierungssinn so schlecht ist! Ein Beispiel: Ich gehe durch einen Park, auf der linken wie auf der rechten Seite gibt es eine Sitzbank. Auf der linken Seite sitzen zwei kleine Kinder darauf und essen Eis und machen Lärm. Auf der rechten Seite sitzen zwei alte Menschen und lesen Zeitung. Durch meine «vernachlässigte» Wahrnehmung auf der linken Seite bekomme ich von den Kindern nichts mit! Die zwei alten Leute werden aber im Gedächtnis abgespeichert.

Wenn ich jetzt den gleichen Weg zurücklaufe, mich also um 180 Grad drehe: Dann sind die Kinder, die ich zuvor nicht wahrgenommen habe, jetzt plötzlich auf der rechten Seite und quasi neu für mich. Und die alten Leute nehme ich hingegen nicht mehr wahr, weil sie ja jetzt links sind. Somit erkenne ich den gegangenen Weg nicht wieder und habe daher Mühe, mich zu orientieren. Das ist abartig logisch!

Ich finde dieses Thema ultraspannend. Ich vermute, dass die Medizin diesem Thema viel zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Das Wichtigste ist, dass man sein Umfeld sensibilisiert, damit es einem darauf aufmerksam macht, wenn man wieder etwas vernachlässigt. Weil der Betroffene realisiert es ja eben nicht, im Sinne: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

Es beißt sich in den Schwanz: Die Medizin vernachlässigt, was man – eben – alles vernachlässigt. Ich fand auch keinerlei Literatur, verfasst von Betroffenen.

Ich persönlich leide unter einem sehr einschränkenden Gesichtsfeldausfall. Aufgrund dessen kann ich fast nicht mehr lesen, weil ich alles, was sich ganz links befindet, nicht sehe oder nicht wahrnehme. Dies hat etwa zur Folge, dass ich nach einer gelesenen Zeile den Anfang der nächsten Zeile nur eingeschränkt wahrnehme. Deswegen verliere ich mich oftmals im Text und muss Zeilenanfänge suchen. Das ist sehr ermüdend und verunmöglicht mir ein flüssiges Lesen.

Sehr mühsam ist auch, wenn das Gelesene plötzlich keinen Sinn ergibt. Es steht zum Beispiel «keine», ich lese aber «eine». Dies kann den ganzen Sinn des Gelesenen verfälschen, schränkt somit das Verständnis ein und braucht natürlich zusätzliche Zeit.

Letzthin schrubbte ich den Balkon mit einer Fegbürste mit langem Stiel. Ich war mir zwar bewusst, dass die linke Hand nun ziemlich belastet wird, fand es aber noch nützlich, dass ich die linke Seite so sehr beanspruche. Ohne es wahrzunehmen, da ich es nicht spürte, übertrieb ich aber derart, dass ich die linke Hand überbelastete und sich daher eine Blase bildete.

Fazit: Auch ich muss mir der ganzen Thematik bewusster werden und versuchen, dieses erworbene Wissen über den Neglect mehr in meinen Alltag einzubauen. Wenn ich beispielsweise von Vorneherein weiß, dass ich den gleichen Weg wieder zurücklaufen werde, sollte ich mich bereits beim Hinweg stark auf die linke Seite konzentrieren. Und: Ich habe mich entschieden, vorerst nicht mehr Fahrrad zu fahren – sicherheitshalber. ♦

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