Mensch. Gesellschaft. Meer.

Mexiko

Nestlés Kampf gegen gesunde Ernährung

Mexiko geht gegen die vermehrte Fettleibigkeit seiner Bevölkerung vor, unter anderem durch Warnhinweise auf Lebensmitteln. Konzerne wie Nestlé versuchen, dagegen vorzugehen – mit Unterstützung der Schweiz. Dies zeigt ein aktueller Bericht von Public Eye.

Ich bin eine Melone und lebe in Mexiko. Hier ist etwas Seltsames im Gang. Die Menschen mögen mich zwar immer noch. Doch viele essen lieber Fertigprodukte, Schokoriegel und Pommes als Obst und Gemüse. Auch wenn sie davon krank werden. Drei Viertel der Bevölkerung sind übergewichtig, sagt eine mexikanische Gesundheitsstudie von 2020. Vor sechs Jahren hat die Regierung deshalb einen nationalen epidemiologischen Notstand ausgerufen, angesichts des «Ausmaßes und der Tragweite der Fälle von Übergewicht und Fettleibigkeit». Ja, auch Übergewicht ist eine Epidemie, nicht nur Covid. Auf gewisse Weise ist sie sogar ansteckend: Kinder übernehmen Essgewohnheiten von ihren Eltern, von Freunden, von Verwandten. Und diese haben sich in Mexiko in den letzten Jahren drastisch verändert. Resultat: 38 Prozent der Fünf- bis Elfjährigen sind übergewichtig oder fettleibig. Würden sie sich doch öfter wieder an uns Melonen oder an unsere Verwandten – Mangos, Bananen oder Ananas – erinnern!

Doch auch Erwachsene ernähren sich vermehrt von so genannten hoch- und ultraverarbeiteten Lebensmitteln: Esswaren, die bei ihrer Herstellung stark industriell bearbeitet wurden, zum Beispiel durch Konservierungsmittel, Farbstoffe oder künstliche Aromen. Diese Produkte enthalten praktisch keine Nährstoffe, Vitamine oder Mineralstoffe, die der Mensch zum Leben braucht. Sie bestehen eigentlich nur aus Kalorien, also aus Fetten, Ölen und Zucker – und machen nicht einmal richtig satt. Ganz abgesehen davon, dass ihre Herstellung viel Energie verbraucht und dem Klima schadet, führen sie zu Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs.

Auf Fertigprodukten muss der Gehalt von Zucker, Salz und Kalorien aufgeführt werden.

Die Schweizer Nichtregierungsorganisation Public Eye, die schon lange zum Thema Ernährung arbeitet, hat kürzlich einen Bericht veröffentlicht, die Situation in Mexiko analysiert. Denn: Ein Schweizer Unternehmen ist in die Geschichte verwickelt. Doch davon später mehr. Zurück zur Gesundheit meiner Leute. Der mexikanische Arzt Hugo López-Gatell, der beim Gesundheitsministerium für Prävention zuständig ist, sagt, dass 2018 die Hälfte aller Todesfälle mit Erkrankungen zusammenhingen, die auf schlechte Ernährung zurückgeführt werden können. Hauptursache: das Überangebot von ultraverarbeiteten Produkten.

•••

Um die Bevölkerung auf dieses Problem zu sensibilisieren und Inputs für eine gesündere Ernährung zu geben, hat Mexiko 2014 eine Regelung eingeführt: Auf den Verpackungen von Fertigprodukten muss der Gehalt von Zucker, Salz, Kalorien und gesättigten Fetten aufgeführt werden, zusammen mit einem Hinweis auf den empfohlenen Tageskonsum dieser Substanzen. Ähnliche Hinweise auf Nahrungsmitteln gibt es auch in Peru, Ecuador und Chile.

Eine gute Sache, würde man sagen. Auch wenn eine Studie des mexikanischen Gesundheitsinstituts INSP zum Schluss kam, dass nur ein Fünftel der Bevölkerung die Hinweise beachtet. Mich als Melone erstaunte es sehr, dass es Menschen gab, die sich unfassbar über diese Warnungen aufregten. Menschen, die gar nicht in Mexiko leben. Die sich höchstwahrscheinlich gesund ernähren. Menschen, die Angst haben, Geld zu verlieren. Es sind die Chefs des Schweizer Lebensmittelkonzerns Nestlé. Anders als für die kranken Mexikaner ist für sie das Geschäft mit den Fertigprodukten nämlich äußerst attraktiv: Über eine Milliarde Schweizer Franken Umsatz hat Nestlé 2019 in Mexiko mit Schokolade, Confiserie, Eiscreme, Getränken in Pulverform, Milchprodukten, Nescafé, Maggi und Cornflakes gemacht. Auf all diesen Produkte sollte der Warnhinweis abgedruckt werden.

•••

Ich hätte gedacht, dass ein Konzern, der so weit weg ist, nicht viel zu sagen hat, wenn es um mexikanische Gesetzgebungen geht, wie zum Beispiel die Sache mit dem Warnhinweis auf Nahrungsmitteln. Aber was weiss ich schon, ich bin ja nur eine Melone. Meine Meinung: Geht gar nicht, dass Nestlé nur an seinen Gewinn denkt und verhindern will, dass die Menschen erfahren: Die Produkte des Unternehmens machen krank.  Doch offenbar hat Nestlé mehr Macht, als ich gedacht habe. Und damit nicht genug: Die Schweizer Regierung half dem Konzern sogar noch in dieser Angelegenheit.

Das Verbot von Einweg-Plastikflaschen ist für Nestlé ein ‹dringendes Problem›.

Am 15. November 2019 schrieb ein Mitarbeitender von Nestlé eine E-Mail ans Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO). Auch das hat Public Eye bekannt gemacht. In dieser E-Mail wurden zwei «dringende Probleme» angesprochen, mit denen Nestlé in Mexiko zu tun habe: Das Verbot von Einweg-Plastikflaschen und das Gesetz mit den Warnhinweisen. Das SECO antwortete prompt und erkundigte sich, an wen in Mexiko es sich mit einer Intervention wenden müsse. Bevor man interveniere, werde man sich wieder mit Nestlé in Verbindung setzen.

Eins der Argumente, die Nestlé ins Feld führt, ist der so genannte Codex Alimentarius. Es handelt sich um eine Sammlung von Normen für Lebensmittelsicherheit und -qualität, die von der Ernährungsorganisation FAO und der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegeben wurde. Da der Codex keine Höchstwerte für bestimmte Substanzen festlege, findet Nestlé: Es sei nicht gerechtfertigt, dass Mexiko in diesem Bereich eigenmächtig handelt. Die Etiketten würden eine negative Botschaft verbreiten und den Menschen unnötig Angst machen. Ehm. Unnötig? Außerdem stellt Nestlé in Frage, wie die mexikanischen Bestimmungen mit den Leitlinien des Codex vereinbar sind. Das mag seltsam erscheinen, doch tatsächlich wurde die Frage intensiv diskutiert, ob Länder trotz des international geltenden Codex eigene Warnsysteme entwickeln dürfen. Das Ergebnis: Sie dürfen. Und zwar auch, wenn ihre Richtlinien strenger sind, als der Codex verlangt. Wie im Fall von Mexiko.

•••

Man kommt aus dem Staunen nicht mehr hinaus. Nicht nur, weil die internationale Staatengemeinschaft sowie Konzerne offenbar in die Politik souveräner Staaten eingreifen können. Sondern vor allem auch, weil die Schweiz hier eine fragliche Haltung zu Tage legt. Das Außendepartement EDA regte sich zwar über den Fall auf. Aber in erster Linie deshalb, weil Nestlé das SECO im Alleingang kontaktiert hatte. Schließlich betreffe die Gesetzgebung in Mexiko auch andere Schweizer Unternehmen wie Lindt, Ricola oder Emmi. Eine mögliche Intervention der Schweiz müsse im Namen aller betroffenen Konzerne erfolgen – und diese wüssten womöglich gar nichts von der Misere, weil Nestlé «es nicht für angebracht gehalten hat, sein Insiderwissen zu teilen». Offenbar verfüge das Unternehmen über einen privilegierten Zugang zu den Behörden.

Tja. Ich hätte mir gewünscht, dass das EDA sich nicht nur um die Wirtschaft sorgt, sondern auch um die Gesundheit der Menschen. Aber eben: Was weiss ich schon. Das SECO habe ich übrigens schon länger abgeschrieben – die haben nämlich bereits im Fall von Chile interveniert: Wie das Land zum Schluss gekommen sei, dass die Maßnahme mit den Warnschildern zum Schutz der menschlichen Gesundheit notwendig sei, haben sie gefragt. Und ob man in Betracht gezogen habe, Maßnahmen einzuführen, die weniger handelsbeschränkend wären. ♦

Quelle: Report von Public Eye 

Übergewicht in der Schweiz

Das zunehmende Übergewicht ist auch in Europa ein Problem. Die Weltgesundheitsorganisation WHO will deshalb Maßnahmen ergreifen, zum Beispiel höhere Steuern oder beschränkende Bestimmungen bei der Werbung von fettigen Lebensmitteln. Laut einem Bericht der Sonntagszeitung haben zwei Expertinnen der WHO dem Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BVL) Empfehlungen für die Schweiz präsentiert. Das BVL gibt an, beim Thema Werbung bereits erste Schritte unternommen zu haben. Um solche Maßnahmen umzusetzen, wäre jedoch eine Gesetzesänderung nötig.

Dieser Text hat Ihnen gefallen?
Die Inhalte von Tentakel sind frei verfügbar. Vielen Dank, wenn Sie unsere Arbeit mit einem kleinen Beitrag unterstützen. Per Twint oder mit einem Klick auf den Button.

Jetzt Spenden