Vor einem Jahr kamen zahlreiche sexuelle Missbräuche in Spanien ans Licht. Endlich musste sich auch in diesem Land die Kirche der Aufarbeitung stellen. Aber Spanien tut sich schwer damit.
Während Wochen wurde Anfang 2022 in Spanien über die Missbrauchsfälle in kirchlichen Institutionen berichtet. Den Stein ins Rollen gebracht hatten Journalisten der spanischen Tageszeitung El País. Seit 2018 hatten sie im Umfeld der Kirche recherchiert und mit Missbrauchsopfern geredet, dabei Fall für Fall aufgezeichnet. Und dann, im Dezember 2021, veröffentlichten sie nicht nur die Ergebnisse, sondern überreichten sie in Rom zudem Papst Franziskus in Form eines 385-seitigen Berichts. Darin wurde 251 katholischen Priestern, Ordensleuten und Kirchenmitarbeitern vorgeworfen, sich an Minderjährigen vergangen zu haben. Der älteste Übergriff stammte von 1943, der jüngste von 2018.
Es war eine Art Erdbeben. Dass in Spanien Missbrauchsfälle noch nicht aufgearbeitet worden waren und die Kirche dies hinauszögerte, war schon lange bekannt. Dem schaute die Bevölkerung bis letztes Jahr auch eher passiv zu. Die Veröffentlichung dieser Recherche jedoch bewegte die Spanier. Wohl deswegen, weil viele der Opfer, die im Bericht vorkommen, Gesicht zeigten: Sei es, indem sie ihre Geschichte auch mit Bild und Namen in Zeitungen wiedergaben. Sei es, dass sie in Videoaufnahmen, die viral gingen, über das Erlebte berichteten. Und was die Betroffenen schilderten, war erschütternd: unsittliche Berührungen, erzwungene Masturbation, Vergewaltigungen in katholischen Internaten, Schulen und Heimen. Zum Teil über Jahre.
Nun sah sich also auch Spaniens Kirche mit der Vergangenheit konfrontiert – mit einem großen Missbrauchsskandal. Nachdem Papst Franziskus den Bericht gelesen hatte, beauftragte er die spanische Bischofskonferenz mit der Aufarbeitung der Fälle.
Das ist ein Problem der Vergangenheit.
Aber: Eine umfassende Untersuchung sei nicht nötig, hieß es erst von Seiten der spanischen Bischofskonferenz, die Kirche verfolge einen «dezentralen Ansatz». Es handle sich ohnehin um «ganz wenige» Fälle, die jeder Orden für sich aufarbeiten müsse – und dies nur dann, wenn der zuständige Bischof es als notwendig erachte. Weiter wies der Generalsekretär der Bischofskonferenz, Luis Argüello, vergangenen Februar darauf hin, dass man doch an die Opfer denken solle. Sie hätten eine «personalisierte» Aufarbeitung verdient, «statt mit einer unabhängigen Kommission Zahlen oder Schätzungen ans Licht zu zerren, von einem Problem der Vergangenheit». Viele Spanier und Spanierinnen waren empört über diese Aussagen.
Da der fehlende Aufklärungswille der Bischöfe offensichtlich war, protestierten schließlich sogar christliche Gruppierungen, und immer mehr Opfer brachen ihr Schweigen. So etwa der preisgekrönte Schriftsteller Alejandro Paloma, der nicht als Opfer im Bericht stand, aber genau wusste, dass sein Bekanntheitsgrad einer ernsthaften Aufklärung dienlich sein könnte. Also führte er in einer Radiosendung Ende Januar 2022 minutiös aus, wie sich ein Geistlicher in den 1970er Jahren an ihm vergangen hatte, und das immer wieder. Heute ist er 55 Jahre alt und sagt von sich, dass er eine verletzte Seele ist, er sei «mit acht Jahren zum Überlebenskünstler geworden».
Parlament schaltete sich ein
Nach der Radiosendung meldete sich Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez und versprach dem Schriftsteller, alles zu tun, um die Fälle von Missbrauch in der katholischen Kirche aufzuklären. In der gleichen Woche schaltete sich das Parlament ein, und entschied, eine von der Kirche unabhängige Untersuchungskommission zu schaffen. Und parallel forderte die Generalstaatsanwaltschaft die Unterlagen aller laufenden Missbrauchsverfahren im kirchlichen Milieu aus ganz Spanien an.
Wieso dauerte es so lange, bis Spanien die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche zu untersuchen begann? In Australien schuf man 2012 eine unabhängige Wahrheitskommission. Ebenso in Deutschland, Portugal oder in den Niederlanden gab es zur Aufklärung von kirchlichem Missbrauch bereits unabhängige Studien. Und in Frankreich veröffentlichten Experten im Herbst 2021 ihre Ergebnisse: Seit 1950 wurden in der katholischen Kirche bis zu 330´000 Minderjährige sexuell missbraucht.
Ein Jahr später, keine Veränderungen.
Nun, ein Jahr ist vorbei. Seit die spanische Gesellschaft und die Opfer aufgeschrieen und eine Aufarbeitung gefordert haben. Was ist seither gelaufen? Die Aussage der Opfer ist ernüchternd: Wenn weiterhin die Kirche die Ermittlungen behindere und lüge, würde die Aufarbeitung scheitern. Mit diesen Worten wurden verschiedene Missbrauchsopfer diesen Sonntag in der spanischen Zeitung infoLibre zitiert. Auch der Schriftsteller Alejandro Palomas. Er stellt enttäuscht fest: «Ein Jahr später, es ist alles beim Alten, keine Veränderungen.»
Eines der Probleme ist die schlechte Koordination. Denn: Am Ende sind nun mehrere Stellen die Missbrauchsfälle am Ermitteln und Festhalten. Es ist eine Farce. Der Staat Spanien hat einen unabhängigen Ombudsmann mit dem Erstellen eines Berichts beauftragt. Und die Kirche hat eine Anwaltskanzlei engagiert, die bereits in Deutschland bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen mitgeholfen hat. Das Problem: Viele Betroffene vertrauen den kirchlichen Stellen und Beauftragten nicht, wollen sich also nicht an sie wenden. Und der Ombudsmann erhält nicht den kompletten Einblick in die Archive der katholischen Kirche. In anderen Worten: Die Bischofskonferenz kooperiert nicht wirklich. Dennoch: Der Ombudsmann bleibt dran und möchte noch in diesem Jahr einen ersten Bericht – auch wenn es nur ein vorläufiger ist – fertigstellen.
Franco und die Kirche
Es bleibt die Frage: Wieso druckst die Kirche, drucksen die Bischöfe seit Jahren herum, wenn es um eine Aufklärung der sexuellen Übegriffe in der spanischen Kirche geht? Wahrscheinlich weil sie befürchten, dass die Zahl der Opfer sehr hoch ist – wie Generalsekretär der Bischofskonferenz Luis Argüello sogar selbst mal öffentlich äußerte. Und wer, wenn nicht die Geistlichen, dürften die Dunkelziffer am besten erahnen. Da müssen noch viele «Kadaver» herumliegen.
Tatsache ist: Im südeuropäischen Land herrschte von den 30er bis Mitte 70er Jahren unter Francisco Franco eine Diktatur. Franco und die katholische Kirche liefen Hand in Hand, arbeiteten sozusagen zusammen, um traditionelle Strukturen zu bewahren. Während dieser Zeit genoss die Kirche eine Monopolstellung im Bildungswesen: viel Zugang zu Minderjährigen, viel Macht – und viele Freiheiten also. Dies galt auch noch lange nach dem Tod des Diktators 1975, als Spanien demokratisch wurde. Die katholische Kirche hat bis heute Einfluss im Land, in der Gesellschaft. ♦
Lesen Sie im Teil 2 von «Kirche und Sexualität» das Interview mit Karin Iten, Präventionsbeauftragte des Bistums Chur.
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