Alle Jahre wieder: Am ersten August erinnern sich tausende von Schweizerinnen und Schweizer an Wilhelm Tell, den heroischen Urvater unseres Landes. Doch wer weiß schon, was damals wirklich abgelaufen ist? In einem Exklusivinterview enthüllt Tell seine ganz eigene Sicht auf die Dinge.
Sie sind bis heute weit über die Schweizer Landesgrenzen hinaus bekannt. War Ihnen damals bewusst, was für eine Kettenreaktion Ihre Verschwörung gegen Habsburg auslösen würde?
Wilhelm Tell: Ehrlich gesagt bin ich in die ganze Sache nur so reingerutscht. Angefangen hat es damit, dass der Vogt meinen Sohn bedroht hat. Ich habe mich gewehrt, ja gut, aber da bin ich ja nicht der Einzige. Wenn es nötig ist, gehen Mütter und Väter sehr weit, um ihre Kinder zu schützen. Da gibt es dann viel extremere Geschichten als meine.
Sie beziehen sich auf den Apfelschuss? Doch nicht nur bei dieser Gelegenheit haben Sie sich Gessler mutig entgegengestellt. Dass Sie sich geweigert haben, den Hut zu grüßen, hat der ganzen Welt gezeigt, wie unerschrocken Sie Ihren Prinzipien folgen.
Ja gut, irgendwie war mir schon klar, dass ich deswegen Probleme bekommen könnte. Und dann haben sich halt die Ereignisse überschlagen, und ich konnte nicht mehr zurück. Ich wurde festgenommen, bin geflohen und musste eine Weile untertauchen, bis sich die Gelegenheit ergab, den Vogt zu erschießen. Über Prinzipien habe ich dabei eigentlich nie groß nachgedacht. Es war ganz einfach: Der Vogt trachtete mir und meiner Familie nach dem Leben. Sobald er tot wäre, würde er uns nichts mehr tun können. Für mich war das Ganze eigentlich erstmal nur eine Privatangelegenheit.
Solche wie Gessler gibt es ja auch heute noch genug.
Doch die Tatsache, dass Sie sich gewehrt haben, zum Beispiel bei der Sache mit dem Hut, hatte Vorbildfunktion im Land. Wie wurde aus der «Privatangelegenheit», wie Sie sagen, die Widerstandsbewegung, der viele folgten?
Wissen Sie, eigentlich war Stauffacher derjenige, der immer den großen Plan im Kopf hatte. Ich wollte das lange Zeit nicht so offen sagen, weil ich nicht sicher war, ob er dann in die Bredouille gerät. Wenn Sie schon von Widerstandsbewegungen sprechen – da gibt es ja heute auch einige, die ganz ähnlich funktionieren wie wir damals. Denn solche wie Gessler gibt es ja auch heute noch genug. Aber die, die sich wehren, werden dann gar nicht immer als Helden gefeiert, gälled Sie. Sondern stattdessen eingekerkert und getötet.
Was denken Sie, woran liegt das?
Ich will ehrlich sein, auch wenn Sie das vielleicht nicht hören wollen. Sie möchten ja zeigen, wie man ein richtiger Held wird. Aber ich glaube, dass das manchmal ganz zufällig passiert. Man macht irgendetwas, und irgendwie steht gerade ein Journalist daneben und macht ein Foto. Zack, und man ist berühmt, ob man will oder nicht. Schauen Sie, wenn man innerhalb von einer Sekunde entscheiden muss, wie man reagiert, wenn einem der Diktator mit dem Tod droht, dann hat man keine Zeit, über Prinzipien und weltweite Zusammenhänge nachzudenken. Man macht einfach. Und dann ist man plötzlich ein Vorbild. Aber warum? Denken Sie etwa, ich sei auf dem Vierwaldstättersee aus dem Boot gesprungen, weil ich ehrenhafte Prinzipien verfolgt habe? Nein, ich wollte einfach nur mein Leben retten.
Aber wie Sie danach Gessler besiegt haben …
Sieg ist ein großes Wort. Der Mord an Gessler war ein Attentat, noch dazu aus einem Hinterhalt. Nicht dass ich mich einem Kampf gestellt hätte oder so. Aber eben, so wie es in der Zeitung steht, bleibts den Leuten dann im Kopf. Wissen Sie, die Mörder von Franz Ferdinand, Kennedy und Gaddafi hatten sicher auch ihre Gründe. Und schauen Sie, wie unterschiedlich uns «die Geschichte» beurteilt. Nein, fragen Sie nicht nach, ich möchte nicht darauf eingehen, was ich über die drei denke – ich kann nur über Gessler sprechen, denn den habe ich persönlich erlebt.
Sie bestehen also darauf, kein Held zu sein?
Korrekt. Die Leute wollen halt Vorbilder, also suchen sie sich welche. Es gibt ja dann solche, denen das gefällt und die es richtig auskosten, aber mir persönlich ist das alles ein bisschen suspekt. Es ist auch eine riesige Verantwortung, die man hat, denn alles, was man sagt, wird gleich abgedruckt. Deshalb habe ich bis jetzt auch nie Interviews gegeben.
Finden Sie es denn falsch, sich Vorbilder zu suchen?
Nein, das nicht. Aber man sollte versuchen, ein bisschen auf dem Boden zu bleiben. Auch die so genannten Helden sind nur Menschen. Und oft sind die, über die niemand spricht, die wirklichen Heldinnen und Helden.
Zum Beispiel?
Recherchieren Sie ein bisschen, das ist doch Ihre Aufgabe. Ich muss jetzt gehen. ♦
Wilhelm Tell ist Bergbauer in Altdorf (UR). Bekannt wurde er, als er auf Geheiß von Landvogt Gessler einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schoss. Später erschoss er Gessler mit derselben Armbrust, was als Befreiungsschlag der Schweizer Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden vom «Habsburger Joch» gilt.
Dieser Text hat Ihnen gefallen?
Die Inhalte von Tentakel sind frei verfügbar. Vielen Dank, wenn Sie unsere Arbeit mit einem kleinen Beitrag unterstützen. Per Twint oder mit einem Klick auf den Button.