Die Welt sieht sich eskalierenden Konflikten und gelähmten völkerrechtlichen Institutionen gegenüber. Und Staaten verwenden immer häufiger Gesichtserkennungstechnik um gegen Randgruppen vorzugehen. Diesen Schluss zieht Amnesty International im jüngsten Report. Die Organisation nahm die Lage der Menschenrechte in 155 Ländern unter die Lupe.
«Die Unterdrückung der Menschenrechte und die großflächige Verletzung des Völkerrechts sind alarmierend», sagt Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International. Ihre Organisation hat den «Amnesty International Report 2023/24» veröffentlicht. Callamard spricht Klartext, der Bericht zeichne dieses Jahr ein düsteres Bild der Welt.
Der Bericht zieht eine schonungslose Bilanz des Verrats an den Menschenrechtsprinzipien durch politischen Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen sowie Institutionen. Angesichts der sich häufenden Konflikte haben viele mächtige Staaten durch ihr Vorgehen die Glaubwürdigkeit weiter beschädigt und die 1945 erstmals geschaffene regelbasierte internationale Ordnung untergraben.
Zivilbevölkerung im Fadenkreuz
Das Jahr 2023 war geprägt vom neu eskalierten Nahostkonflikt: Erst erlebten am 7. Oktober 2023 israelische Familien den furchtbaren Angriff mit zahlreichen Toten durch die Hamas und andere bewaffnete Gruppen. Darauf reagierten die israelischen Behörden mit unerbittlichen Luftangriffen auf bewohnte zivile Gebiete, die oft ganze Familien auslöschten und fast 1,9 Mio. Palästinenser und Palästinenserinnen zur Flucht zwangen. Die Belege für Kriegsverbrechen, so die Nichtregierungsorganisation Amnesty International, reihten sich aneinanderreihen und die israelische Regierung mache das Völkerrecht im besetzten Gazastreifen zur Farce. «Was wir im Jahr 2023 gesehen haben, bestätigt, dass viele mächtige Staaten den Grundprinzipien der Menschlichkeit und Universalität, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert sind, den Rücken kehren», erläutert Callamard.
Auch die eklatanten Verstöße der russischen Streitkräfte bei ihrer anhaltenden Invasion der Ukraine werden in dem Bericht beleuchtet. Der Amnesty Report dokumentiert wahllose Angriffe auf dicht besiedelte zivile Gebiete, die Energieinfrastruktur und den Getreideexport. Ebenfalls aufgezeigt wird der Einsatz von Folter und anderen Misshandlungen gegen Kriegsgefangene.
Im Nachgang der Proteste unter dem Motto «Frau, Leben, Freiheit» im Jahr 2022 unterdrückten die Behörden im Iran auch 2023 weiterhin die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Sie gingen auch verstärkt gegen Frauen und Mädchen vor, die sich den Verschleierungsgesetzen widersetzten. Verschwindenlassen sowie Folter und andere Misshandlungen waren im vergangenen Jahr im Iran an der Tagesordnung und kamen systematisch zur Anwendung. Die Behörden verhängten und vollstreckten grausame und unmenschliche Strafen, einschließlich Auspeitschungen. Die Anwendung der Todesstrafe als Mittel der politischen Unterdrückung wurde 2023 verschärft, und die Zahl der Hinrichtungen nahm zu.
Technologien schüren Hass
Der Amnesty Report stellt fest, dass Angriffe auf Frauen, LGBTI* und ausgegrenzte Gemeinschaften in vielen Teilen der Welt zugenommen haben. Neue und bestehende Technologien werden zunehmend zur Repression herangezogen, sei es zur Verbreitung von Desinformationen oder um Gemeinschaften gegeneinander auszuspielen und Minderheiten anzugreifen.
Der Bericht weist auch darauf hin, dass Technologien im großen Stil dazu eingesetzt werden, diskriminierende Maßnahmen zu verankern. Staaten wie Argentinien, Brasilien, Indien, die USA und Großbritannien setzen zunehmend auf Gesichtserkennung, um öffentliche Proteste und Sportveranstaltungen zu überwachen und auf diskriminierende Weise gegen Randgruppen – insbesondere Migranten und Migrantinnen sowie Flüchtlinge – vorzugehen. So räumte beispielsweise die New Yorker Polizei im Jahr 2023 als Reaktion auf eine Klage von Amnesty International ein, dass sie zur Überwachung von Black-Lives-Matter-Protesten Gesichtserkennungstechnologie eingesetzt hatte.
In Serbien führte die Einführung eines automatisierten Systems für die Vergabe von Sozialleistungen dazu, dass Tausende Menschen den Zugang zu lebenswichtiger Sozialhilfe verloren. Dies betraf insbesondere Roma und Menschen mit Behinderungen und zeigt auf, wie automatisierte Systeme soziale Ungleichheiten verschärfen können.
Weltweit waren Millionen Menschen auf der Flucht vor Konflikten. Zur Durchsetzung von Migrationspolitik und Grenzkontrollen wurden vielerorts Technologien eingesetzt, die große Risiken für die Menschenrechte bargen, wie zum Beispiel digitale Alternativen zur Inhaftierung, Anwendungen zur Überwachung der Grenzen, Software zur Datenanalyse, Biometrie-Tools und algorithmische Entscheidungssysteme. Diese allgegenwärtigen Technologien leisten Diskriminierung, Rassismus und der unverhältnismäßigen und rechtswidrigen Überwachung rassifizierter Menschen Vorschub.
Gleichzeitig blieb Spionagesoftware – die in der Regel gegen Aktivisten im Exil, Journalistinnen und Menschenrechtsverteidern eingesetzt wurde – weitgehend unreguliert, obwohl es seit langem Beweise für die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen gibt.
Menschen fordern weltweit Rechte ein
«Während es viele Staats- und Regierungschefs und Regierungschefinnen nicht als ihre Aufgabe sahen, für die Menschenrechte einzutreten, erlebten wir, wie die Menschen sich zu Protesten und für eine hoffnungsvollere Zukunft zusammenschlossen», sagte Callamard.
Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas führte auf der ganzen Welt zu Hunderten Protestkundgebungen. Lange bevor sich Regierungen zu ähnlichen Forderungen bekannten, forderten Menschen vielerorts einen Waffenstillstand, um das Leid der Palästinenser und Palästinenserinnen im Gazastreifen zu beenden, sowie die Freilassung der Geiseln durch die Hamas und andere bewaffnete Gruppen.
Deutschland und die Schweiz in der Kritik
Auch europäische Länder und die Schweiz werden im Bericht beleuchtet. So erkenne Deutschland etwa strukturellen Rassismus zu wenig an und setze sich zu wenig für den Schutz der Bevölkerung vor Hasskriminalität ein. Auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit drohe laut Amnesty International teils eingeschränkt zu werden.
Das Recht auf Protest, das von entscheidender Bedeutung ist, um auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen, wird auch in der Schweiz verletzt. Kritik übt Amnesty International an der generellen Bewilligungspflicht für öffentliche Kundgebungen und der Überwälzung außerordentlicher Polizeikosten auf Demonstrierende in mehreren Schweizer Kantonen. Unbewilligte friedliche Demonstrationen wurden gewaltsam aufgelöst, unter anderem in Basel und Genf. Nach der Eskalation des Nahostkonflikts wurden zudem in mehreren Städten der Deutschschweiz vorübergehende Demonstrationsverbote verhängt. ♦
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