Mensch. Gesellschaft. Meer.

Klimawende

Willkommen in der Zukunft

Lange sah es so aus, als würde die Schweiz die Klimawende nicht schaffen. Doch als ein Jahrhunderthochwasser das Land verwüstete und rund um den Globus Waldbrände wüteten, machte es bei vielen Klick. Diese und andere Geschichten erzählt die Plattform «Schweiz 2050».

Illustration: Verein Klimaschutz Schweiz

Pierre Favre reist für sein Leben gern. Die Welt zu entdecken und in andere Kulturen einzutauchen, ist für den 55-Jährigen das Größte. «Früher reiste ich viel mit dem Flugzeug», sagt Favre, «doch heute genieße ich Slow Travelling – langsames Reisen.» Der Ausbau des europäischen Zugnetzes, die komfortablen Linienschiffe über die Weltmeere und die Zeppeline der Swiss machen’s möglich. Pierre Favre spricht aus dem Jahr 2050 zu uns und ist einer der Protagonisten der Online-Plattform Schweiz 2050, die vom Verein Klimaschutz Schweiz ins Leben gerufen wurde.

Während uns der Gedanke an die Zukunft angesichts der weltweiten klimatischen, sozialen und wirtschaftlichen Krisen zunehmend Sorgen bereitet, zeigt uns die Website, dass alles auch ganz anders kommen könnte: «Das Leben im Jahr 2050 ist großartig!» heißt es dort. Tatsächlich liest sich die Vision, wie unser Land in 30 Jahren aussehen könnte, fantastisch: «Die Schweiz ist fossilfrei und klimaneutral. Der Import von Erdölprodukten und Erdgas gehört der Vergangenheit an. Denn die Schweiz hat die Elektrifizierung und die einheimische Stromproduktion immer schneller gesteigert. Den größten Beitrag leisten Wasser, Wind und vor allem die Sonne. Fahrzeuge besitzen heute Elektromotoren, und die Gebäude werden mit Wärmepumpen, Holzheizungen und Solarthermie beheizt oder gekühlt. Für den wenigen Flugverkehr, den es im Jahr 2050 noch gibt, wird fossilfreies Kerosin aus erneuerbaren Energien hergestellt. Seit wir uns im Alltag am häufigsten mit dem Velo oder zu Fuß fortbewegen, merken wir, wie uns das mental und körperlich gut tut. Auch das Wohnen hat sich verändert: Statt die alten Gebäude abzureißen, sanieren wir sie vermehrt. Dadurch bleibt nicht nur ihre Bausubstanz erhalten, sondern auch ihre Geschichte, ihr Charme und das gesamte Ortsbild. Durch eine Siedlungsentwicklung nach innen ist heute im Jahr 2050 mancher Dorfplatz zu neuem Leben erwacht.»

Das Leben im Jahr 2050 ist grossartig!

Wow! In so einer Zukunft möchte man alt werden, ohne sich darüber Gedanken zu machen, was für ein Leben unsere Kinder und Enkelinnen erwartet. Heute fragen wir uns, ob wir im Winter genug Energie zum Heizen haben werden, doch wenn sich die Vision von Schweiz 2050 verwirklicht, sind solche Probleme in Zukunft hinfällig. Doch was muss passieren, damit dieser Traum real wird? Oder ist das alles nur eine Utopie ohne Chance auf Verwirklichung? «Wir zeigen auf, was wir uns für die Zukunft wünschen», sagt die Projektverantwortliche Nina Engeli. «Doch es ist keine Träumerei. Wir sind überzeugt, dass es machbar ist – und darauf sollten wir als Gesellschaft hinarbeiten.» Tatsächlich basieren die hoffnungsvollen Beschreibungen unserer Zukunft nicht auf Idealismus, sondern auf Fakten. Dies belegen die weiterführenden Links auf entsprechende Studien und Forschungsergebnisse. Im Fall des fossilfreien Kerosins zum Beispiel auf ein Projekt der ETH Zürich. Dort wurde eine solare Mini-​Raffinerie entwickelt, die aus Sonnenlicht und Luft flüssige Treibstoffe herstellt.

Emmentaler Kräutertofu statt ungesunde Fleisch-Überdosis

«Um Klimaneutralität zu erreichen, ist nicht nur die Gesellschaft gefordert, sondern vor allem auch die Politik», betont Engeli. Klimaneutralität oder so genannte Netto-Null-Bilanz gilt als erreicht, wenn alle durch den Menschen verursachten Treibhausgas-Emissionen ausgeglichen, das heißt aus der Atmosphäre entzogen werden. Dies kann zum Beispiel durch Aufforstung, Humusaufbau oder maschinelle CO2-Filterung erreicht werden. Durch Klimaneutralität kann der weltweite Temperaturanstieg gestoppt werden. Dafür ist laut Engeli ein geplanter und schrittweiser Ausstieg aus den fossilen Energien zentral, denn diese sind die Hauptverursacher für die hohen Emissionen. So ist ein Herzstück von Schweiz 2050 die Beschreibung eines Landes, das voll und ganz auf erneuerbare Energien umgestiegen ist. Doch es ist kein Ort, an dem die Menschen nur mit dem Überlebenswichtigsten auskommen und auf Genuss verzichten müssen. Im Gegenteil. Es ist ein Ort, an dem sich das Leben freier und leichter anfühlt. Ohne Autolärm, ohne Smog, ohne verpestete Gewässer und Nahrungsmittel.

Auch in Punkto Ernährung ist auf Schweiz 2050 von konkreten, gangbaren Alternativen die Rede. Stefan Wenger, ein fiktiver Landwirt der Zukunft, übernahm den Hof von seinem Vater, als sich die Nutztierhaltung schweizweit im Umbruch befand. Im Jahr 2050 führt er einen florierenden Gemüsebaubetrieb und hat wie viele andere von der Klimawende profitiert: «Wir setzen auf biologische Mischkulturen und düngen mit Kompost. Seither ist der Boden viel fruchtbarer. In der alten Dorfkäserei wird jetzt Emmentaler Kräutertofu produziert, eine Spezialität von hier. Da ich mich mit anderen Bauern zu einer Genossenschaft zusammengeschlossen haben, verdienen wir gut. Wir können unsere Preise selber bestimmen und sind nicht auf Großverteiler angewiesen. Die Maschinen laufen mit Strom, den wir mittels Solarzellen und einem Windrad selbst erzeugen.»

https://www.youtube.com/watch?time_continue=5&v=Tjsval3djow&feature=emb_logo

Von der Tierwirtschaft ist Wenger auch deshalb weggekommen, weil sie sich nicht mehr lohnte: Die Menschen kauften im Verlauf der Jahre immer weniger Milchprodukte und Fleisch. Daher ist es 2050 selbstverständlich, nur noch so viele Tiere zu halten, wie eine inländische, graslandbasierte Fütterung zulässt. Während des schrittweisen Ausstiegs aus der intensiven Tierhaltung konnten Bäuerinnen und Bauern auf eine breite Unterstützung in Form von Beratungs- und Bildungsangeboten zählen. Auf Grund der geringen Nutztierbeständen sind auch keine Futtermittel-Importe mehr nötig. Das Tierfutter kann auf Schweizer Weideflächen produziert werden. Dies schont nicht nur das Klima, sondern macht die Schweiz auch unabhängiger vom Ausland – ein großes Plus für die Ernährungssicherheit.

Sonnenenergie statt teure fossile Brennstoffe

Was nach romantischer Idylle klingt, bringt laut dem Verein Klimaschutz Schweiz aber auch wirtschaftliche Vorteile. «Die Schweiz gibt jedes Jahr um die acht Milliarden Franken für fossile Brennstoffe aus, wie aus den Statistiken des Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit hervorgeht», betont Engeli. «Dieses Geld fließt ins Ausland, da wir nicht über entsprechende Ressourcen verfügen. Erneuerbare Energien wie Wind- oder Sonnenenergie dagegen wird in der Regel lokal produziert. Damit schaffen wir Wertschöpfung und Arbeitsplätze in der Schweiz.» Eine aktuelle Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zeigt,  dass bei einem beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien bis 2035 schweizweit rund 80 Prozent mehr Wertschöpfung und bis zu 87’000 neue Arbeitsplätze generiert werden können.

Sonnenenergie ist schon heute die kostengünstigste Art, Strom zu produzieren. Dies zeigen verschiedene Studien, zum Beispiel die letztjährige des Fraunhofer-Instituts für solare Energiesysteme (ISE). «Erneuerbare Energie ist heute schon gleich teuer oder billiger als fossile Energie, und wenn man dann noch alle ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgekosten mitrechnet, ist der Nutzen riesig», bestätigt auch der ETH-Professor Anthony Patt. «Die Umstellung auf erneuerbare Energie würde sich auch dann lohnen, wenn es keine Klimakrise gäbe.» Auch eine kürzlich erschienene Studie der International Renewable Energy Agency (IRENA) kam zum Schluss, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit der erneuerbaren Energien stark verbessert hat. «Die Lebensdauerkosten pro Kilowattstunde der Solar- und Windkraftanlagen, die 2021 in Europa in Betrieb genommen wurden, werden vier- bis sechsmal niedriger sein als die Kosten der fossilen Brennstoffe – und dies, obwohl die Materialkosten gestiegen sind.»

Sonnenenergie ist die kostengünstigste Art, Strom zu produzieren.

Weiterhin auf fossile Energien zu setzen, ist also nicht nur aus klimatischen Gründen eine Fehlentscheidung. Doch die Transformation zu einer nachhaltigeren Lebensweise kann nicht von einen Tag auf den anderen stattfinden. Wir stehen vor einer Herausforderung, so viel ist sicher. Doch statt darüber zu debattieren, mit welchen Hindernissen der Weg gepflastert ist, macht uns Schweiz 2050 verständlich: Es lohnt sich! Die Plattform konzentriert sich auf die fünf Themen Energie, Landwirtschaft, Mobilität, Reisen und Wohnen. «In diesen Bereichen haben wir noch großen Handlungsbedarf, aber auch enormes Potenzial zur Emissionsreduzierung», so Engeli. Besonders, wenn die Schweiz einen so radikalen Wandel nicht im Alleingang durchführt, sondern eine europa- oder sogar weltweite Kooperation stattfindet, die sich nicht nur auf Lippenbekenntnisse beschränkt. «Der Umbau des Energiesystems hat sowieso schon angefangen. Die Schweiz als führender Wissenschafts- und Technologiestandort steht jetzt vor der Wahl, ob sie von Anfang an mitziehen oder zur Nachzüglerin werden will – was übrigens kostspieliger werden dürfte.» ♦

www.schweiz-2050.ch

Weltklimarat besorgt

Der aktuelle Sachstandbericht des Weltklimarates (IPCC) bestätigt, dass die Erreichung einer Netto-Null-Bilanz bis ins Jahr 2050 möglich ist, wenn die erforderlichen politischen Massnahmen rasch getroffen werden. Unter anderem die Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius, was dem Beschluss des Pariser Klimaabkommens von 2015 entspricht. 195 Staaten haben das Abkommen unterschrieben, doch bei Nichteinhaltung können Staaten nicht sanktioniert werden. Die nationalen Klimaschutzpläne sind laut IPCC nicht ausreichend, um die Ziele zu erreichen.

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