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Femme géniale #5

«Wir fordern eine völlige Neugestaltung der Welt»

Chemieprofessorin, Friedensaktivistin und Frauenrechtlerin der ersten Stunde – die Bernerin Gertrud Woker engagierte sich ein Leben lang für eine gerechte und gewaltfreie Welt. Bis ihre Familie sie in die psychiatrische Anstalt einweisen ließ, weil sie angeblich an Verfolgungswahn litt.

Filmstil «Die Pazifistin» / © First Hand Films

Wenn sie ein Mann gewesen wäre, wäre sie heute weltberühmt und würde als Wissenschaftspionier gefeiert. Doch Gertrud Woker wurde trotz ihrer herausragenden Arbeit und ihrem unermüdlichen Engagement ein Leben lang in den Hintergrund gedrängt. Zuerst an der Universität Bern, wo sie als zweite Frau überhaupt eine Dozentenstelle erhielt. Dann im ebenfalls männlich dominierten politischen Umfeld, in dem sie aufgrund ihres pazifistischen Engagements als Kommunistin und Landesverräterin verschrien wurde. Und schließlich von ihrer Familie, die sie im hohen Alter von 88 Jahren in eine Nervenheilanstalt einweisen ließ, in der sie verstarb. «Nicht ganz klar im Kopf» sei Tante Trudi gewesen, hieß es. Auch wenn es von heute aus gesehen offensichtlich ist, dass sie klarer gewesen ist als so manch einer ihrer männlichen Zeitgenossen.

Woker wurde am 16. Dezember 1878 in Bern geboren. Ihr Vater Philipp Woker war Theologie- und Geschichtsprofessor, ihre Mutter die Schwester des späteren Bundesrates Eduard Müller. In der Schule bekam Gertrud stets Strafarbeiten, weil sie nicht stillsitzen konnte. Doch das lag nicht an ihrer mangelnden Intelligenz – im Gegenteil. Sie las und lernte lieber, als Haushaltskram zu erledigen, und sie empfand es als Folter, dass sie statt ins Gymnasium in ein Haushaltslehrjahr nach Deutschland geschickt wurde. Dort beschloss sie, nie zu heiraten – dann würde sie nicht den ganzen Tag kochen und putzen müssen.

Die erste Dozentin für Chemie im deutschsprachigen Raum.

Doch statt sich in ihr Schicksal zu fügen, lernte sie nachts heimlich für die Matur, die sie 1900 abschloss. Danach schrieb sie sich sofort an der Universität Bern für Organische Chemie ein und wurde die erste Schweizerin, die in Chemie promovierte – mit Auszeichnung. 1907 wurde sie zur ersten Dozentin für Chemie im deutschsprachigen Raum ernannt, und ab 1911 leitete sie das Berner Institut für physikalisch-chemische Biologie.

Doch einfach hatte Woker es nicht. Im Ausland schätzte man die außerordentliche Wissenschaftlerin, doch in der Schweiz bekam sie nur ein winziges Labor, kaum Forschungsgelder und ein mickriges Gehalt. Erst 1933 wurde sie zur außerordentlichen Professorin ernannt. Allerdings nicht, weil man in Bern begann, sie als die hervorragende Wissenschaftlerin zu schätzen die sie war. Sondern, weil zahlreiche internationale Forscher ihre Ernennung forderten und sie als «Pionierin der Biochemie» bezeichneten. Die Universitätsleitung gab nach, anerkannten Woker jedoch im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen keinen festen Lehrstuhl zu. Eine ordentliche Professur könne sie nur erhalten, wenn sie Chemiegeschichte lehre, hieß es. Doch sie wollte forschen.

Vom Rektor zur Rede gestellt

Als Frau anfangs des 20. Jahrhunderts hatte man in der Wissenschaft einen schweren Stand. Doch das war nur einer der Gründe, dass Wokers Arbeit lange nicht anerkannt wurde. Das größere Problem war, dass sie sich politisch exponierte. Sie äußerte sich jahrzehntelang dezidiert gegen den Krieg und vor allem gegen den Einsatz von Giftgas und Atomwaffen. Sie war Mitgründerin der Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) und des Schweizer «Komi­tees für einen dauernden Frieden», die 1919 den zweiten Internationalen Kongress der Frauenliga in Zürich organisierte. Sie formulierte gesellschaftspolitische Forderungen, die bis heute von Bedeutung sind: «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit» und «Gleiche Pflichten, gleiche Rechte».

Woker kritisierten den Missbrauch der Wissenschaft durch das Militär.

1933, als Woker ihre Professur antrat, lag außerhalb der Schweiz vieles im Argen. Hitler wurde zum Reichskanzler gewählt, und Stalin herrschte über die Sowjetunion. Woker wurde auf Grund ihrer pazifistischen Haltung verdächtigt, Kommunistin und Landesverräterin zu sein. Der Rektor der Universität Bern stellte sie zur Rede, doch sie beteuerte, immer nur gegen den Giftgaskrieg gekämpft zu haben. Dies hing unter anderem mit einem Ereignis zusammen, das sie nachhaltig schockiert hatte: Als sie 1924 in den USA eine Produktionsstätte für chemische Kampfstoffe besuchte, zeigte sie sich entsetzt, «von Grauen erfasst im Gedanken an die Unglücklichen, die mit Feuer und Gift grausamer umgebracht würden als das schlimmste Ungeziefer». Sie begann, Texte zum Thema zu veröffentlichen und zeigte auf, welche Folgen der Einsatz von Giftgas im Krieg hatte.

Besonders kritisierte sie, dass die Wissenschaft vom Militär missbraucht und für Gewalt am Menschen eingesetzt wurde. «Im Namen der Würde der reinen Wissenschaft verurteilen wir aufs Schärfste den Missbrauch wissenschaftlicher Forschung für destruktive kriegerische Zwecke», schrieb sie. Ihr 1932 erschienenes Buch «Der kommende Gift- und Brandkrieg und seine Auswirkungen gegenüber der Zivilbevölkerung», in dem sie die Interessen der Rüstungsindustrie beleuchtete und Kritik am Lobbyismus ausübte, wurde unter Hitler auf die Liste verbrennungswürdiger Bücher gesetzt. In der Schweiz wurde sie «Gas-Trudi» genannt.

Vom Bundesrat ausgebremst

Ab den 50er Jahren fokussierte sich Woker in ihren Schriften und Reden – unter anderem vor dem Völkerbund, der Vorgängerinstitution der Vereinten Nationen – auf die Gefahren des Atomzeitalters, und auch in diesem Kontext positionierte sie sich klar. Unter anderem plädierte sie für einen «wirklichen Völkerbund», der den Krieg nicht humanisiere, sondern unmöglich mache. Sie kämpfte gegen die Verharmlosung der Atomversuche an und stellte klar, welche Folgen diese Art der Kriegsführung für die Weltbevölkerung hatte. Sie stellte klare politische Forderungen, zum Beispiel gegen die «sogenannte friedliche Anwendung der Atomenergie», damit «die Achtung vor dem Leben den Überlegungen wirtschaftlicher Natur und den Profit­interessen der Industriebarone des Atomzeitalters übergeordnet werde».

Bald wurde Woker weltweit als wissenschaftliche Autorität in Fragen der modernen Kriegsmethoden anerkannt. Doch der Schweizer Regierung war sie ein Dorn im Auge: 1959 wurde ihr vom Bundesrat verboten, einen europäischen Frauenkongress zum Thema atomare Aufrüstung zu organisieren. Sie schrieb: «Das Vertrauen, das die Völker, die in zwei Weltkriegen unsäglich gelitten haben, bisher der Schweiz als Friedensinsel entgegenbrachten, wird dauernd durch solche ungerechtfertigten, die Grundrechte infrage stellenden Verbote erschüttert.

Wären Frauen an der Macht, gäbe es keine Kriege.

Der Bundesrat, der genau solche Verbote verhing und Frauen wie Getrud Woker ständig Steine in den Weg legte, bestand ausschließlich aus Männern. Wären Frauen an der Macht, so Wokers Überzeugung, gäbe es keine Kriege: «Wir Frauen fordern eine völlige Neugestaltung der Welt. Es ist die soziale Ungerechtigkeit, die zu Krieg führt. Das auf Lebenserhaltung abgestimmte Wesen der Frau hätte die Mittel und Wege zur Erhaltung des Friedens gesucht und gefunden.» Für die politische Mitbestimmung der Frau hatte Woker sich schon als Studentin eingesetzt, und später gehörte sie zu den Mitbegründerinnen des Schweizerischen Verbands für Frauenstimmrecht.

Von der Familie für geisteskrank erklärt

Die Chemiewaffeneinsätze der USA im Vietnamkrieg ließen Wokers schlimmste Befürchtungen wahr werden. Sie setzt sich mit einer Resolution dagegen ein und schrieb einen Brief an den damaligen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy: «Herr Präsident, mit größter Sorge infolge der Wiederaufnahme der nuklearen Versuchsexplosionen bitten wir Sie inständig, die nuklearen Testversuche mit sofortiger Wirkung zu verbieten. Es dünkt uns, dass die Völker schon reichlich genug durch Kriegsspiele, Versuchs­explosionen und dergleichen gelitten haben, als dass sie nochmals Leuten ausgeliefert werden sollten, die in sonderbaren Vorstellungen über Sicherheitsvorkehrungen für die sogenannte freie Welt befangen sind. Mit der herzlichen Bitte, dass Sie, Herr Präsident, unseren Glauben an Ihre friedliche Staatskunst nicht zerstören möchten, zeichnet für das Komitee gegen die wissenschaftliche Kriegsführung der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit.»

Wokers Familie hielt nicht viel von diesem Engagement. Im Gegenteil, sie belächelten «Tante Trudi» und hielten sie für senil oder sogar geisteskrank – gerade auf Grund des Briefs an Kennedy. Als sie 88 Jahre alt war, ließen sie sie in die Nervenheilanstalt Préfargier am Neuenburgersee einweisen, wo sie zwei Jahre später verstarb. Es hieß, sie leide an Verfolgungswahn. Doch dass sie fichiert wurde und bis zu ihrem Tod unter Beobachtung stand, war keine Einbildung – das ist im Nachhinein bekannt.

In den USA wurde sie als Geisteskranke beschimpft und vom Ku-Klux-Klan bedroht. Es wurde das Gerücht verbreitet, sie habe ihr neugeborenes Kind verbrannt. «Sie wollten mich kaputtmachen, zum Schweigen bringen», schrieb Woker später. Doch dies ist nicht gelungen. Nicht nur ihre wissenschaftliche Pionierarbeit hat bis heute Bedeutung – auch ihre Geschichte ist nicht in Vergessenheit geraten. 2021 wurde ihre Biografie verfilmt: Der animierte Dokumentarfilm «Die Pazifistin» trägt zwar den Untertitel «Eine vergessene Heldin», hat aber maßgeblich dazu beigetragen, dass die Geschichte der Bernerin einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde. ♦

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