Sie nennen sich «Pro Life» oder «Jugend für das Leben». Es sind weltweit aktive Gruppen, die gegen Abtreibungen mobil machen. Gut vernetzt versuchen sie, Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen – auch schreiend vom Gehsteig aus. Frau Müller ist schockiert.
Wer sich dazu entscheidet abzutreiben, hat einen schweren Weg vor sich. Sowohl die Gesetzgebung als auch die Gesellschaft machen es den Betreffenden nicht leicht. Wenn dann der Gang zu einer Beratungsstelle noch zusätzlich zum Spießrutenlauf wird, hat das einen Namen: «Gehsteigbelästigung». Vor allem in den USA ein Problem, ist diese Art der Schikane nun auch in Deutschland angekommen. Militante Abtreibungsgegner und Abtreibungsgegnerinnen belagern Beratungsstellen und Kliniken und belästigen Schwangere mit Fotos von abgetriebenen Föten und Plastik-Embryonen, um bei den Betreffenden Scham und Schuld zu erzeugen. Angestellte und Ärztinnen dieser Einrichtungen werden teilweise sogar bedroht.
Wahrscheinlich finden Sie diese Belästigungen und Bedrohungen verstörend und rufen laut: «Das ist doch kriminell!» Das sah der deutsche Staat aber lange anders. Opferschutz? Fehlanzeige. Denn das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wurde höher bewertet als das Leid der schwangeren Frauen und ihr Recht, nicht beschimpft und belästigt zu werden. Sie müssten durch so eine Situation halt «durch». Doch damit soll bald Schluss sein. Seit ein paar Wochen liegt endlich ein Gesetzesentwurf vor, der dieses Verhalten mit Geldstrafen ahnden will und eine Verbotszone für Demonstrierende im Umkreis von hundert Metern um Einrichtungen vorschreibt. Dass dies so lange gedauert hat, zeigt nur mal wieder: wie wenig Frauenpolitik im Vordergrund steht.
Was mich darüber hinaus empört, sind all diese Menschen, die Schwangere drangsalieren und glauben, das Recht zu haben, über deren Körper zu entscheiden. Misogynie at its best. Leider gibt es derlei Personen immer mehr. Dahinter stehen – vor allem in den USA – sehr mächtige Organisationen, die nicht nur Pro Life sind, sondern auch contra Frauenrechte und Feinde der LGBTQIA* Community. Zum Teil haben diese Gruppen einen religiösen Hintergrund. Wen wunderts, sind Religionen doch schon seit jeher an der Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung interessiert. Und die Ordnung hört in diesem Fall – seien wir doch ehrlich – auf den Namen Patriarchat. Ob sich diese Gruppen mit der gleichen Vehemenz auch für Kinder einsetzen, die schon auf der Welt sind? Mit Betreuungskosten, Unterstützung und Hilfen für alleinerziehende Mütter etc.? Ich vermute eher nein.
Da kommt bestimmt wieder der beliebte Spruch: «Hätte sie halt aufgepasst.» Was aber wenn aufpassen gar keine Option war? Weil das Kind durch eine Vergewaltigung entstanden ist.
Erst kürzlich zeigte eine Studie in den USA, wie viele Kinder nach Vergewaltigungen auf die Welt gekommen sind, da in den betreffenden Staaten absolutes Abtreibungsverbot besteht. Was das über die Stellung der Frauen dort aussagt? Dass sie kein Recht über den eigenen Körper haben. Ein Paradebeispiel dafür, wie wenig Relevanz die sexuelle Selbstbestimmung hat.
Stattdessen werden Entscheidungen von denen getroffen, die eigentlich überhaupt nicht mitsprechen können, nämlich von Männern. Die sind im Verurteilen von Abtreibungen oft ganz vorne mit dabei. Kein Uterus, keine Meinung: Das sollte hier wohl die richtige Antwort sein.
Frauen eine Abtreibung zu verweigern, ist körperliche und seelische Gewalt und kann im Zweifelsfall tödlich sein. In Polen starben bereits Frauen, weil in den Krankenhäusern die lebensnotwendige Abtreibung nicht durchgeführt wurde, aus Angst vor gesetzlichen Konsequenzen.
Wie sehr Frauen schon seit jeher über ihren Körper definiert und als Gebärmaschinen angesehen werden, wurde mir letztens bei einem Vortrag zum Thema Endometriose klar. Denn die weltweiten Daten zu dieser Erkrankung (die sowieso eher spärlich ausfallen) wurden hauptsächlich erhoben, weil es bei vielen Frauen zur Unfruchtbarkeit führt. Unerhört, sind doch die Fruchtbarkeit und Gebärfähigkeit die wichtigsten Eigenschaften einer Frau (Achtung, Zynismus). Dass die Krankheit darüberhinaus zu schlimmsten Schmerzen und vielen anderen Symptomen führen kann, die das Leben der Betroffenen sehr einschränken, ist gar nicht das Hauptthema. Sprich, die Gebärfähigkeit ist wichtiger als die Gesundheit und das Wohlbefinden. Solange sich das nicht ändert, wird die körperliche Selbstbestimmung ein schöner Traum bleiben. ♦
Recht auf Abtreibung in Verfassung
780 Parlamentarierer und Parlamentarierinnen stimmten heute in Frankreich Ja: Das Recht auf Abtreibung wird in die Verfassung verankert. «Wir haben eine moralische Pflicht gegenüber den Frauen», sagte der französische Premierminister Gabriel Attal mit Blick auf die Frauen, die bei heimlichen Abtreibungen gelitten hätten oder gestorben seien. Und Frankreichs Emmanuel Präsident Macron schrieb im Onlinedienst X (ehemals Twitter): «Frankreichs Stolz. Universelle Botschaft.» Nur 72 Parlamentarier und Parlamentarierinnen stimmten Nein. Frankreich ist somit das erste Land weltweit, das diesen Schritt geht. (cal)
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