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Femme géniale #1

Schlecht gelaunt, erschreckend intelligent 

Zeitlebens und leidenschaftlich widmete sich die Engländerin Rosalind Franklin der Naturwissenschaft. Ihre größte Errungenschaft war die Fotografie der menschlichen DNA. Die Lorbeeren für ihre Arbeit, den Nobelpreis, heimsten jedoch ihre männlichen Kollegen ein. Mit diesem Text starten wir die Reihe «Femme géniale», in der wir uns auf die Spuren von Frauen mit inspirierenden Lebensgeschichten begeben.

© CC BY-SA 4.0

Obwohl Rosalind Elsie Franklin nur 37 Jahre alt wurde, war sie eine der bedeutendsten Pionierinnen der Naturwissenschaft. Doch davon erfuhr die Öffentlichkeit erst nach ihrem Tod. Denn drei Männer aus ihrem akademischen Umfeld stahlen Franklins Forschungsergebnisse und gaben sie als ihre eigenen aus. Maurice Wilkins, Francis Crick und James Watson gewannen den Nobelpreis für die Entdeckung der Struktur der menschlichen DNA. Die wissenschaftliche Grundlage dafür hatte Rosalind Franklin über Jahre hinweg erarbeitet. Doch sie wurde von den drei Forschern nicht einmal erwähnt. Als Watson später seine persönlichen Erinnerungen an die 50er-Jahre und die DNA-Forschung veröffentlichte, beschrieb er Franklin als schlecht gelaunt und stur. Die immense Bedeutung ihrer wissenschaftlichen Arbeit verschwieg er.

Die Geschichte Franklins ist bezeichnend und exemplarisch. Im Laufe der Geschichte wurden die Namen von Frauen, die zu aussergewöhnlichen wissenschaftlichen Erkenntnissen gelangten, immer wieder unter den Teppich gekehrt. Die amerikanische Genetikerin Nettie Stevens, die österreichische Kernphysikerin Lise Meitner, die irische Astrophysikerin Joycelyn Bell Burnell und die amerikanische Molekularbiologin Esther Lederberg – um nur einige Beispiele zu nennen – setzten Meilensteine, auf die die Forschung bis heute aufbaut. In allen vier Fällen ging der Nobelpreis für die entsprechenden Entdeckungen an Männer aus ihrem Umfeld, die sie um Hilfe baten oder sich ihre Forschungsergebnisse aneigneten.

Universitätsabschluss mit Bestnoten – aber ohne Titel

Zurück ins Jahr 1920, als Rosalind Franklin als Tochter einer wohlhabenden und angesehenen jüdischen Familie in London geboren wurde. Bereits in der Primarschule interessierte sie sich für Naturwissenschaften. Laut ihrer Tante Mamie war Rosalind klüger als ihre drei Brüder, doch dies war eher Grund zur Besorgnis als zur Freude. «Rosalind ist erschreckend intelligent», schrieb Mamie in einem Brief an ihren Mann. «Sie verbringt all ihre Freizeit mit Arithmetik und macht bei den Berechnungen nie Fehler.» Wie die Schriftstellerin Brenda Maddox in ihrer Franklin-Biographie «The dark lady of DNA» festhält, war höhere Intelligenz bei Frauen damals nicht nur ein Problem, sondern geradezu eine Blamage. Schliesslich lenkte es sie von ihren eigentlichen Aufgaben ab.

Doch Franklin war entschlossen, Wissenschaftlerin zu werden, seit sie zwölf Jahre alt war, und liess sich von nichts und niemandem davon abbringen. Auch nicht von ihrem Vater, der immer wieder Zweifel und Kritik an ihrer Karriere äusserte. In der Sekundarschule wählte sie Chemie, Physik und Mathematik als Schwerpunktfächer. Allerdings wurden wissenschaftliche Fächer an Mädchenschulen anders unterrichtet als an Knabenschulen. Wie aus dem Bericht einer zeitgenössischen Bildungskommission hervorgeht, wurden die weiblichen Schülerinnen vor allem darin ausgebildet, vorgegebene Experimente mit Gründlichkeit durchzuführen und akkurat zu dokumentieren. Die Methodik lag auf der Wiederholung und auf der Erstellung von Diagrammen und Etiketten. Die jungen Männer dagegen wurden ermutigt, Erfinder- und Entdeckergeist an den Tag zu legen.

Doch Franklin wäre nicht Franklin gewesen, wenn sie sich daran gehalten hätte. Sie experimentierte in ihrer Freizeit weiter, so gut sie konnte, und kam deshalb auch schneller voran als ihre Mitschülerinnen. Jahre später, als sie für das britische Kohlenforschungsinstitut tätig war, hielt sie sich genauso wenig an Einschränkungen und Verbote. Man erzählte, dass sie Geräte bediente, die mit dem Hinweis «Benutzung für nicht autorisiertes Personal verboten» versehen waren, indem sie ganz einfach das Hinweisschild umdrehte.

Franklin schloss ihr Studium mit Bestnoten ab, erhielt aber keinen offiziellen Abschluss.

Kurz vor ihrem 18. Geburtstag bestand Franklin die Aufnahmeprüfungen für die Universität von Cambridge mit Bravour. In Chemie legte sie die beste Prüfung des Jahrgangs ab, so dass sie ein Stipendium für drei Jahre erhielt. Sie widmete sich insbesondere der Kristallforschung und der physikalischen Chemie, die sich mit dem Verhalten von Atomen und Molekülen befasst. Franklin schloss ihr Studium 1941 mit Bestnoten ab, erhielt aber keinen offiziellen Abschluss oder Titel. Frauen wurden in Cambridge nicht als reguläre Studentinnen oder Universitätsangehörige betrachtet. Sie durften zwar seit 1869 an Vorlesungen teilnehmen, mussten aber in gesammelter Form in den vordersten Reihen sitzen. Weibliche Dozierende sassen bei Veranstaltungen und Zeremonien der Universität in Kleid, Handschuhen und Hüten bei den Ehefrauen der männlichen Universitätsangehörigen, die akademische Roben und Doktorhüte trugen.

Nobelpreis für die Doppelhelix – aber nicht für Franklin

Nach dem Studium arbeitete Franklin für das British Coal Utilisation Research Association, wo sie auch ihre Dissertation abschloss. 1947 wurde sie als Postdoktorandin ans Laboratoire Central des Services Chimiques de l’Etat nach Paris eingeladen, wo sie unter anderem lernte, Röntgenstrahlen so zu beugen, dass diese Kristalle durchdrangen und so deren Struktur sichtbar machten. Sie sprach an Konferenzen und publizierte verschiedene Beiträge in Fachzeitschriften, so dass sie im akademischen Umfeld immer mehr Anerkennung erlangte. 1950 ging sie zurück nach London und begann ihre Tätigkeit am King’s College, wo sie zum ersten Mal an organischen Stoffen forschte. Eigentlich war vorgesehen gewesen, dass Franklin ihre Forschung an Kristallen und Kohle weiterverfolgte. Doch in letzter Sekunde entschied man, dass sie zur Struktur der DNA forschen sollte. Damals wusste niemand, wie bahnbrechend die Erkenntnisse auf diesem Gebiet sein würden – es wurde eher als langweilig und nebensächlich betrachtet.

Die Frauen durften den Aufenthaltsraum der Männer nicht betreten.

Ihre DNA-Forschung betrieb Franklin zusammen mit Maurice Wilkins, mit dem sie sich nie gut verstand. So beschwerte sie sich bei Freunden darüber, dass er ihre Professionalität nicht anerkannte und sich in ihre Arbeit einmischte. Der Disput ging so weit, dass Direktor Randall das Forschungsgebiet so unter ihnen aufteilte, dass jeder für sich allein arbeiten konnte. Franklins Spezialität war das fotografische Abbilden von molekularen Strukturen, das sie wie niemand anders beherrschte. Im Januar 1953 gab Wilkins eine von Franklins Fotografien ohne ihre Erlaubnis an die beiden Forscher James Watson und Francis Crick weiter. Als Watson das Foto sah, soll er gesagt haben: «Mir fiel die Kinnlade herunter und mein Puls begann zu rasen.» Tatsächlich war die Abbildung eine Sensation. Dank ihr wissen wir heute, wie die menschliche DNA aussieht. Das Modell der Doppelhelix, das heute noch verwendet wird, baut auf Franklins Foto auf. Veröffentlicht wurde es jedoch nicht von ihr, sondern von Watson und Crick. Deren Publikation von 1953 warf hohe Wellen. Auf Franklin wiesen die beiden nur in einer Fussnote hin. Dabei gestanden sie nicht ein, wie grundlegend deren Arbeit für ihre Forschung gewesen war, sondern erwähnten nur, dass das DNA-Modell «durch die allgemeine Kenntnis von Franklins Arbeit» angeregt worden sei. 1962 erhielten sie für ihre Foschung den Nobelpreis. Rosalind Franklin hatte keinerlei Teil am Ruhm, den die beiden dadurch erlangten. Mehr noch: Die Welt erfuhr nichts davon, dass eine geniale Frau hinter dieser revolutionären Entdeckung stand.

Dass sie auf diese Weise übergangen wurde, war aber nicht Franklins einziges Ärgernis am King’s College. Wie schon an der Universität hatten Frauen auch hier nicht denselben Stellenwert wie Männer – selbst wenn sie, wie im Fall von Franklin, die besseren Wissenschaftlerinnen waren. John Randall, der damalige Direktor der Fakultät für Physik, war diesbezüglich zwar fortschrittlich und stellte viele Frauen an, auch in höheren Positionen. Doch selbst er konnte die universitären Strukturen nicht umgehen, die zum Beispiel verhinderten, dass Frauen den Aufenthaltsraum der Männer betreten durften. Dies war zu jener Zeit nicht unüblich. An der Princeton University in den USA war es Frauen sogar verboten, das Fakultätsgebäude für Physik zu betreten, weil sie als Ablenkung für die männlichen Studenten betrachtet wurden.

Dass bahnbrechende Erfolge von Frauen ignoriert werden, ist allerdings nicht nur ein Phänomen aus vergangenen Zeiten. Der Nobelpreis für Physik wird dieses Jahr zum 122. Mal vergeben. Die Auswahl der Preisträger trifft die Schwedische Akademie der Wissenschaften. Erst vier Mal wurde bisher eine Frau ausgezeichnet – zuletzt im Jahr 2020 die Amerikanerin Andrea Mia Ghez und 2018 die Kanadierin Donna Strickland. Diese teilte sich den Preis mit ihrem ehemaligen Doktorvater Gérard Mourou sowie mit Arthur Ashkin. Wer sich nach der Bekanntgabe der Preisträgerinnen und Preisträger fragte, wer Donna Strickland ist, wurde im Internet erstmal nicht fündig. Wenige Monate zuvor hatte die bekannte Online-Enzyklopädie Wikipedia ihren Eintrag gelöscht, weil Strickland nicht relevant genug sei.

Wie Männer die Geschichte verfälschen

Rosalind Franklin beschwerte sich nie öffentlich über diese unrechtmässige Aneignung ihrer Forschungsergebnisse. Dennoch widmete sie sich zeitlebens und leidenschaftlich der Wissenschaft und wollte auch keine Familie gründen. Als sie mit nur 37 Jahren an Eierstockkrebs starb, bevor sie ihre Forschung abschliessen konnte, war sie eine anerkannte Wissenschaftlerin – und dennoch wurde sie übergangen und ignoriert. Im 1968 veröffentlichten Buch «Die Doppelhelix», in dem Watson die Entdeckung der DNA-Struktur aus seiner Sicht erzählt, beschreibt er Franklin als schlecht gelaunte Frau, die ihre Forschungsergebnisse nicht herausrücken wollte und die «hätte hübsch sein können, wenn sei ihre Brille abgelegt und etwas mit ihren Haaren gemacht hätte».

Watsons Darstellung von Franklin, die von sexistischen Kommentaren gespickt ist und über ihre wissenschaftlichen Errungenschaften hinweggeht, kommt einer Verfälschung der Geschichtsschreibung gleich. Denn die dadurch geschaffenen Bilder halten sich über Jahrhunderte hinweg. Watsons Buch wurde vom Rowohlt-Verlag im Jahr 2007 zum 20. Mal neu aufgelegt, wird in der amerikanischen «Modern Library» auf Platz 7 der 100 besten Nonfiction-Publikationen gelistet und rangiert in der ZEIT-Bibliothek der deutschen Tageszeitung «Die ZEIT» unter den 100 besten Sachbüchern. Wenig zitiert wird dagegen der Kommentar von John Desmond Bernal, einem der bedeutendsten Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, der Franklin eher gerecht wird: «Als Wissenschaftlerin zeichnete sich Miss Franklin durch extreme Klarheit und Perfektion in allem aus, was sie unternahm. Ihre Fotografien gehörten zu den schönsten Röntgenaufnahmen, die je von einer Substanz gemacht wurden.» ♦

Alle Frauenporträts dieser Reihe finden Sie hier.

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