Mensch. Gesellschaft. Meer.

Frau Müller, she knows #5

Denn sie wissen, was sie tun

Eine Straftat begehen + versuchen, den Geschädigten die Schuld zu geben, um am Ende selbst als armes Opfer dazustehen = Victim Blaming. Warum diese Rechnung in unserer Gesellschaft (immer noch) so gut funktioniert? Natürlich hat sich Frau Müller darüber Gedanken gemacht.

Foto: PublicDomainPictures

Seit Wochen sorgt der Fall um Rammstein-Sänger Till Lindemann in den deutschen Medien für Furore und wütende Kommentare. Darunter auch viele, die die Glaubhaftigkeit der Vorwürfe gegen Herrn Lindemann anzweifeln. Bei diesen Vorwürfen geht es um Sexualdelikte und Verabreichung von Betäubungsmitteln auf After-Show-Partys der Band. Und nicht nur viele Fans rufen erzürnt: «Gilt hier denn nicht die Unschuldsvermutung?»

Klar, die gilt natürlich nach wie vor – aber eben auch für alle. Wenn allerdings Vorwürfe direkt als Lügen abgetan werden, ploppt bei mir folgende Frage auf: Wieso glauben so viele in unserer Gesellschaft den Opfern von Straftaten generell erstmal nicht? Oder suchen gar die Schuld bei den Opfern selbst? Denn bei Kommentaren wie «Die wusste doch, auf was sie sich einlässt, wenn sie zu so einer Party geht» landen wir bei einem Phänomen, das den Namen Victim Blaming oder auch Opfer-Beschuldigung trägt. Das Prinzip ist simpel: «Hey, selbst schuld! Du hast dich nämlich falsch verhalten.»

Diese Strategie wird gerne bei Vergewaltigungsprozessen benutzt und wurde schon 1971 im Buch «Blaming the victim» des US-Psychologen William Ryan beschrieben. Zahlreiche Beschuldigte wurden in den letzten Jahrzehnten freigesprochen, nachdem sich deren Verteidigung nach Herzenslust kreativ ausgetobt hatte. (Vorsicht, Ironie!) Die Liste der absurden Argumente, warum denn das Opfer doch eigentlich schuld ist, reicht von «Jeans zu eng» über «Unterwäsche zu sexy» bis «Aussehen zu männlich». Schwer zu glauben, aber macht deutlich, welch unsägliche und zugleich leider sehr effektive Strategie Victim Blaming ist.

Warum funktioniert das eigentlich so gut? Weil diese Denkweise einfach sehr fest in unserer Gesellschaft verankert ist. Von Frauen wird ganz selbstverständlich erwartet, selbst Verantwortung für ihre Sicherheit zu tragen. Sätze wie «Dein Kleid ist zu kurz», «Geh nachts nicht raus», «Triff dich nicht alleine mit einem Mann» oder «Trink halt keinen Alkohol» implizieren, dass Frauen, die diese Ratschläge nicht beachten, Mitschuld an sexuellen Übergriffen haben. Nach dem Motto: «Du hast die Regeln nicht eingehalten, tja, dann wundere dich aber auch nicht.» Egal, ob es um verbale oder körperliche Angriffe geht, viele Opfer müssen sich rechtfertigen. Vor allem für ihr äußeres Erscheinen. Ein gefährlicher Umkehrschluss, und der Grund, warum Vergewaltigungsopfer noch immer nach ihrer Kleidung gefragt werden.

Zurück zum Fall Lindemann. Fakt ist, wenn Leute erwarten, dass es auf Partys in der Musikszene gerne mal zu sexuellen Delikten kommt und Menschen unter Einfluss von Substanzen sowas auch verdient haben, läuft etwas extrem falsch in unserer Gesellschaft. Denn harmlos ist Victim Blaming nicht. Die Opfer werden dadurch ein zweites Mal traumatisiert, da es so belastend ist, wie die Tat selbst.

Doch nicht nur im sexuellen Kontext ist eine Opfer-Beschuldigung ein beliebtes Mittel, um einzuschüchtern und Macht auszuüben. Ein Beispiel ist häusliche Gewalt, auch hier sind die meisten Betroffenen weiblich gelesene Personen. Ausgeübt wird Victim Blaming oft von Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die die Schuld immer bei Anderen suchen. Obwohl die Narzissten selbst toxisch auf ihr Umfeld wirken, sehen sie sich als Opfer. Das vermitteln sie so glaubhaft, dass sich die von ihnen geschädigten Personen am Ende wirklich schuldig fühlen. Wer schlägt, rechtfertigt sich nicht selten mit Sätzen wie: «Du zwingst mich mit deinem Verhalten dazu» oder «Du provozierst mich» und so weiter.

Wie sich der Fall Lindemann auf die Musikbranche auswirkt, bleibt abzuwarten. Von «Einzelfällen» wird gesprochen, mittlerweile fast ein Synonym für «strukturelles Problem». Aber pardon, man kann sich das auch schönrechnen, so wie der deutsche Musikmanager Thomas Stein. Er bemerkte jüngst in einer Talkshow, dass man doch die Anzahl der betroffenen Frauen (bisher gut ein Dutzend) in Relation zu 300.000 Konzertbesucherinnen setzen müsse. Da drängt sich mir der Verdacht auf, dass der dabei entstehende Prozentsatz für Herrn Stein anscheinend noch ok ist. Ab hier bin ich raus. Mathe war nie meins. In diesem Sinne.

Ah, ja, im Übrigen: Gestern stellte die Berliner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen Lindemann ein. Als Grund wurde die mangelnde Beweislage angegeben. Da erinnere ich mich so ganz spontan an ein Zitat von Bertolt Brecht: «Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.» ♦

Dieser Text hat Ihnen gefallen?
Die Inhalte von Tentakel sind frei verfügbar. Vielen Dank, wenn Sie unsere Arbeit mit einem kleinen Beitrag unterstützen. Per Twint oder mit einem Klick auf den Button.

Jetzt Spenden