Mensch. Gesellschaft. Meer.

Neapolitanischer Brauch

Eine Tasse für dich

Hinsetzen und einen Kaffee trinken. Und dies in einem gesellschaftlichen Ambiente, etwa in einem Café. Für einige Menschen ist das zu teuer, außer jemand spendet einen Kaffee. «Café Surprise» motiviert dazu. 15´000 verschenkte Kaffees gingen 2022 in der Schweiz über die Theke.

Foto: Camilla Landbø

Es geht rege zu und her, im Café des Generationenhauses in Bern. Menschen lesen Zeitschriften, halten an Bistrotischen Sitzungen ab oder sind mit Kind da und genießen einen Moment mit Kaffee und heißer Schokolade. Draußen ist es in der Schweizer Hauptstadt kalt. Zu kalt, um sich im Freien lange hinzusetzen und zu verweilen. Wer also zu wenig Geld für einen Kaffee hat, und in der Schweiz kostet er mittlerweile im Schnitt sechs Franken, ist während der Wintermonate vom sozialen Käffchentrinken im öffentlichen Leben oft ausgeschlossen.

Aber nicht überall! Denn es gibt Cafés verteilt in der ganzen Schweiz, die sich einer solidarischen Aktion angeschlossen haben, sie heißt «Café Surprise». Und sie funktioniert so: Jemand mit gut gefülltem Geldbeutel bezahlt zwei Kaffees, trinkt aber nur einen. Die zweite Tasse darf jemand anders konsumieren, der oder die sich keinen Kaffee leisten könnte. Das Einzige, was eine bedürftige Person tun muss, ist an der Theke Bescheid geben, dass sie gerne einen Surprise-Kaffee hätte. Es braucht keine weiteren Erklärungen oder Rechtfertigungen.

Im Generationenhaus auf der Bartheke steht neben Törtchen und Studentenschnitten eine kleine Tafel mit den Lettern «Spendierte Kaffees». Darunter sind mit Kreide geschrieben 19 Striche ersichtlich, sprich: 19 spendierte Kaffees. «Ja, die Leute sind spendierfreudig», weiß Nicolas Fux, Angebotsleiter von «Café Surprise». Die solidarische Aktion funktioniere gut, und die armutsbetroffenen Personen seien einfach dankbar über dieses Angebot.

Aktuell machen 114 Cafés und Restaurants schweizweit bei Café Surprise mit.

Ins Leben gerufen hat diese Aktion im Jahr 2014 der Verein Surprise. Er gibt auch die gleichnamige Zeitschrift heraus, die von sozial benachteiligten Menschen auf den Straßen in der Schweiz verkauft wird. Damit können sie ihren Lebensunterhalt aufbessern.

Seit neun Jahren also können sich Gastrobetriebe beim Verein melden und sich der Aktion «Café Surprise» anschließen. «Aktuell sind es 114 Cafés und Restaurants schweizweit, die mitmachen», sagt Fux, «Tendenz steigend.» Alleine in den ersten Wochen von 2023 seien fünf neue Gastronomiebetriebe dazugekommen.

Wie sieht es mit der Zahl der Kaffeetrinker und -trinkerinnen aus? «Nach wie vor wird mehr gespendet als konsumiert», erläutert Fux. Das habe vor allem damit zu tun, dass die bedürftigen Menschen erst erfahren müssten, wo man und dass man einen Kaffee abholen könne. Aber die Anzahl der bezogenen Kaffees zeige, dass es das Angebot brauche. «Letztes Jahr sind 15´000 Kaffees über die Theke gegangen.» Dies in 26 Ortschaften der Schweiz, nebst Bern unter anderem in Basel, Burgdorf, St. Gallen, Chur oder Luzern.

Woher stammt die Idee? «Aus Italien», sagt Fux, «dort ist das schon lange bekannt.» Man nenne es da einfach «Caffè sospeso». Das heißt soviel wie «aufgeschobener Kaffee». Geht man dem nach, wird man überrascht: Der Caffè sospeso ist nicht vor ein paar Jahren oder wenigen Jahrzehnten erfunden worden, sondern vor über hundert Jahren. Die Idee stammt aus Neapel, wo sich in vielen Bars dieser Brauch, einen zweiten Kaffee zu verschenken, um die Wende zum 20. Jahrhundert etablierte. Und bis heute wird er gelebt.

Eine Pizza für dich

Das solidarische Konzept «Einmal konsumieren, zweimal bezahlen» weitet sich aus. Seit 2020 gibt es in Basel über die Wintermonate die «Pizza sospesa». Als Kunde oder Kundin kann man ein Stück oder eine ganze Pizza zusätzlich bezahlen und jemand anders darf sie essen. Es ist die Pizzeria Vito, die diese Aktion mit dem Verein Surprise als Sozialpartner initiiert hat. Die Idee inspiriert: Wo könnte man das sonst noch einführen? Im Supermarkt? Im Kleidergeschäft? Schuhladen? Apotheke?

Im Generationenhaus in Bern nehmen immer wieder Menschen das Angebot des kostenfreien Kaffees wahr, erzählt die Frau hinter der Bartheke, es dürften aber mehr sein. Wegen der Coronakrise sei «Café Surprise» über einige Monate eingestellt worden. Deswegen habe es sich noch nicht genügend herumgesprochen, dass man wieder einkehren und um einen Kaffee bitten darf. Nicolas Fux betont noch einmal explizit, natürlich gehe es bei diesem Angebot auch um den finanziellen Aspekt, aber eben nicht nur, «sondern darum, dass die sozial benachteiligten Menschen nicht vom öffentlichen Leben ausgeschlossen sind». ♦

Welche Cafés in der Schweiz mitmachen, sehen Sie hier.

 

Suspended Coffee

Ab 2008, im Zuge der internationalen Finanzkrise, wurde der neapolitanische Brauch weltweit nach und nach in verschiedenen Städten und Ländern kopiert. So gibt es mittlerweile in Deutschland das «Suspended Coffee Germany», in Österreich das wie in Neapel gleichnamige «Caffe sospeso» oder in Spanien den «Café pendiente». Suspended Coffee Germany existiert seit 2013, über 200 Cafés in ganz Deutschland nehmen an der Aktion teil.

www.suspendedcoffee.de

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