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In der Praxis

«Sich das Leben als Heldengeschichte erzählen»

Die deutsche Journalistin und Buchautorin Dana Buchzik rät klar davon ab, radikalisierten Menschen Paroli zu bieten. Der Weg ist ein anderer, und zwar jener der Suche nach Bedürfnissen. Teil 2 der Mini-Serie «Extremismus».

Foto: un-perfect

In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich mit entfremdeten Menschen.
Dana Buchzik: Grundsätzlich muss man anerkennen, dass Menschenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft tief verwurzelt ist. Die Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Beispiel zeigen seit vielen Jahren, wie menschenfeindlich die Mitte unserer Gesellschaft ist. Das sehen wir jedes Jahr aufs Neue auch bei rassistischen und antisemitischen Straftaten, bei Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen oder trans Personen.

Was geht bei einem Menschen ab, der sich entfremdet?
Die Forschung sagt, dass sich diese Menschen das eigene Leben als Heldengeschichte erzählen möchten. Und dies kann ganz unterschiedliche Gesichter haben.

Welche?
Das hängt von den persönlichen Bedürfnissen ab. Es gibt Leute, die sehr idealistisch sind und in einer Sekte landen, wo es vermeintlich darum geht, aufopferungsvoll Gutes in die Welt zu bringen. Andere suchen vor allem Zugehörigkeit. Und natürlich gibt es auch jene Menschen, die sadistisch sind und eher in einer Gruppierung landen, in der es sehr stark um Gewaltausübung geht. Jedenfalls: Das Motiv der Heldengeschichte ist bei Radikalisierten zentral, das treibt sie an.

Sie glauben, dass sie etwas ganz Wichtiges tun?
Ja, genau. Das ist dann auch der Dreh- und Angelpunkt, an dem Familien und Freunde ansetzen können. Sie kennen ja die radikalisierte Person am besten, wissen, was ihr vorher wichtig war, was ihrem Leben einen Sinn gegeben hat. Familie und Freunde können alternative Angebote machen, damit diese Person das Leben auch ohne die radikale Ideologie wieder als sinnvoll erleben kann.

Während der Pandemie hörte ich von Coronaleugnern Argumente, die nervten. Ich lernte eine Frau kennen, die in ihrer Praxis keine Geimpften mehr behandelte. Als Ungeimpfte sprach sie von Ausgrenzung, grenzte aber selber aus.
Im Umgang mit radikalisierten Personen müssen wir immer erst mal abwägen, wo wir eigentlich im Verhältnis stehen. Wenn es eine Person ist, mit der wir nur lose zu tun haben, können wir uns das Gespräch sparen, es ist vergeudete Energie und Zeit.

Grad so?
Ja, das klingt vielleicht hart, aber umgekehrt erleben wir das ebenso: Wenn eine für uns fremde Person auf uns zukommt und sagt, «alles, was du glaubst, ist falsch und du musst jetzt sofort dein Leben ändern», dann sagen wir ja auch nicht: «Ja, klar.» Die Verschwörungstheoretiker fanden alles falsch, was die Coronamaßnahmen-Befürworter sagten, und umgekehrt.

Radikale Gruppen sind immer Orte der Lüge.

Wie kommt man aus einer solchen Situation heraus?
Erst mal: keine Gegenrede! Führen Sie keine inhaltliche Diskussion, hören Sie damit auf, sofort, es frisst nur Kraft und Zeit, die einfach im luftleeren Raum verpufft. Irgendwelche Faktenchecks zu zitieren, bringt nichts. Sondern es geht darum herauszufinden, welche Bedürfnisse diese Radikalisierung befriedigt, diese Ideologie bedient.

Man muss also den Vorteil der Person verstehen, warum sie sich dieser radikalen Gruppierung – egal, ob politisch, religiös oder rassistisch – angeschlossen hat?
Verstehen, was diese Gruppe vermeintlich zu bedienen scheint – nicht real. Radikale Gruppen sind immer Orte der Lüge, des Betrugs, der Unterwerfung und Ausbeutung. Das heißt, irgendeine Art von Öffnung für eine Intervention gibt es bei einer radikalisierten Person immer, weil sie eigentlich weiß, dass sie in dieser Gruppe nicht das bekommt, was sie sich wirklich wünscht.

Wie kann man verhindern, dass ein Gespräch eskaliert?
Das können wir verhindern, indem wir uns gut vorbereiten. Ich arbeite in meinen Beratungen viel mit Perspektivübernahme und versuche immer wieder daran zu erinnern: Wir sind genervt und gestresst, vielleicht sogar verletzt von dem, was unser Gegenüber sagt. Aber: Unserem Gegenüber geht es genauso. Deshalb sollte man die radikalisierte Person ganz konkret ins Boot holen. Auf Augenhöhe. Nun, das ist ja in jeder Form menschlicher Kommunikation sehr wichtig. Im Kontakt mit Radikalen ist das jedoch alternativlos.

Warum?
Weil Personen, die an radikale Gruppierungen angebunden sind, dort die Erfahrung machen, dass es keine Grenzen geben darf, keine persönlichen Bedürfnisse. Das heißt, die radikalisierte Person muss erst wieder lernen, dass jeder ein Recht auf Bedürfnisse und Grenzen hat. Wenn wir also die Not des anderen anerkennen und dass er uns gar nicht nerven will, fällt es uns leichter, nicht in die Emotion zu gehen. Schaffen wir das, haben wir den Boden gebaut, auf dem wir zueinander finden können. Und danach geht es darum, gemeinsam Regeln aufzustellen und nicht nur uns selbst, sondern auch die Person zu fragen, was sie braucht, damit es ihr im Kontakt mit uns gut geht.

Und wenn die Person unbedingt von der radikalen Gruppe reden will?
Da kann man, wenn man dazu bereit ist, ihr vorschlagen, dass man sich pro Woche für eine Stunde verabredet und jeder seine Ansichten und Überzeugungen vertritt, ohne einander zu unterbrechen – jedenfalls sofern dabei geltendes Recht geachtet wird. Man bewegt sich in einem abgesteckten Rahmen, damit die Person über die Gruppe oder Inhalte sprechen kann, die ihr wichtig sind.

Können solche Annäherungsprozesse nicht Jahre dauern?
Doch. Und da kommen wir zur Auflösung: Wir können nicht mit einem Knaller-Argument oder einer Spitzen-Strategie diese radikalisierte Situation einfach mal so in kürzester Zeit auflösen. Das wird unserem Menschsein nicht gerecht. Welches komplexe Problem lässt sich in zwanzig Minuten oder in zwei Wochen auflösen? Jede Verhaltensveränderung ist Knochenarbeit. Auch für Personen ohne Radikalisierungshintergrund. Deswegen arbeite ich vor allem mit Angehörigen und Freunden der Betroffenen. Denn da ist die Liebe im besten Fall so groß, dass auch die Bereitschaft da ist, diesen vielleicht längeren Weg zu gehen. ♦

 


Dana Buchzik ist Journalistin und Autorin. Die 39-jährige Deutsche berät Menschen, die beruflich oder privat mit Radikalisierung konfrontiert sind. Sie selbst wurde «in eine Sekte hineingeboren» und erlebte hautnah, was radikale Ideologien mit einem Menschen machen können.

 

 


Das Buch: Warum wir Familie und Freunde an radikale Ideologien verlieren – und wie wir sie zurückholen können

Querdenken-Demos, gewaltbereite Reichsbürger, Verschwörungstheoretiker – immer mehr Menschen driften auf der Suche nach Halt und Orientierung in radikale Ideen- und Vorstellungswelten ab, finden Antworten in Chat-Gruppen, Internetforen und auf fragwürdigen Webseiten. Dana Buchzik erklärt die Psychologie hinter dieser Entfremdung, sie zeigt Strategien auf, wie jeder Einzelne den Kontakt zu Betroffenen aufrechterhalten und konfliktärmer gestalten kann.

Teil 1 der Mini-Serie «Extremismus» können Sie hier lesen.

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