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das Interview

«Niemand ist vor Extremismus gefeit»

Selbst er schließt nicht aus, dass er extrem werden kann. Dabei ist Dirk Baier ein Experte, wenn es um Extremismus geht. Jahrelang hat er in Deutschland kriminologisch geforscht. Heute leitet der 46-jährige Sachse das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention in Zürich. Das Interview ist Teil 1 der Mini-Serie «Extremismus».

Foto: zvg

Ist Ihre Arbeit in der Schweiz im Vergleich zu Deutschland nicht fast ein bisschen… wie soll ich sagen? Langweiliger, ruhiger, zahmer, weniger kriminell …
Dirk Baier: Es ist tatsächlich so. Aber das kommt nicht von ungefähr: In der Schweiz ist die soziale Kontrolle höher. Dadurch, dass hier alles kleinteiliger ist, und man schwere Sachen nicht so sehr kennt, schaut man mehr auf die kleinen Probleme, die einem Sorge bereiten. Wenn Jugendliche beispielsweise an einer Schule herumhängen, geht spätestens nach dem dritten Mal ein besorgter Bürger aufs Gemeindeamt. Und das Amt muss sich darum kümmern. Tut es das nicht, ruft der Bürger übermorgen bei «20 Minuten» an.

Das passiert in Deutschland nicht?
Da ist es mit den vielen Großstädten, wo schnell mal eine halbe Million Einwohner und mehr leben, schwieriger. Nun, die Schweiz ist für mich als Kriminologe trotzdem spannend. So gibt es hier Phänomene, die sichtbarer sind, etwa der Linksextremismus. Dagegen ist der Rechtsextremismus in Deutschland viel präsenter und besorgniserregender.

Da stelle ich mir nun freundliche Schweizer Verbrecher vor…
Das ist tatsächlich nicht so. Die Menschen, die meinen, Grenzen überschreiten zu dürfen, egal ob es in Richtung kriminelles oder extremistisches Verhalten geht, die sind sich überall sehr ähnlich. Verbrechen passieren in der Schweiz einfach seltener, weil früher hingeschaut und reagiert wird, also nicht erst dann, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist.

Was ist für Sie extrem?
Ich unterscheide zwischen Extremen, Extremismus und Radikalität. Beim Extremismus richte ich mich nach der Definition der Nachrichtendienste, die auch in der Wissenschaft akzeptiert ist: Man ist gegen die demokratische Grundordnung. Das Feindbild ist also die Demokratie mit all ihren verfassungsmäßig garantierten Freiheiten und Rechten. Dazu kommt: Als Extremist ist man bereit, dieses Feindbild auch mit Gewalt zu bekämpfen.

Und bei Radikalität?
Radikal kann man in jede Richtung sein: etwas radikal bis zur Wurzel denken. Daher kommt ja der Begriff, vom lateinischen Wort «radix», Wurzel. Man kann radikal linke Ideen, marxistische Ideen verfolgen. Wenn man allerdings nicht bereit ist, ebenso mit Gewalt dafür zu kämpfen, ist man kein Extremist. Die Unterscheidung liegt also in der Gewaltbereitschaft.

Und die Extremen? Verwenden Sie diesen Begriff in Ihrer Arbeit?
Nein. Wir fokussieren im Wesentlichen die drei derzeit präsenten Formen des Extremismus: links, rechts, Islamismus. Alle drei haben eine bestimmte Idee, wie die Gesellschaft umgestaltet werden muss und was anstelle von Politik wie Parlament stehen soll. Andere Bereiche wie radikale Frauenhasser oder Tierextremismus untersuchen wir zurzeit nicht, auch, weil sie noch nicht so stark in Erscheinung treten wie die genannten Extremismusformen.

Bildung ist nicht per se ein Schutzfaktor vor Extremismus.

Wieso wird ein Mensch radikal, bis hin zu extremistisch?
So plötzlich passiert das nicht. Ich würde zudem prinzipiell sagen: Niemand ist davor gefeit. Auch ich nicht.

Und wie kann das passieren?
Beim Extremismus kommen mindestens zwei Sachen zusammen. Erstens: Es muss ein gesellschaftliches Thema geben, das zu polarisierten Meinungen und Positionen führt. Ein Thema wie Reichtum: Er ist sehr ungleich in der Gesellschaft verteilt. Die einen Personen betrachten das als gut, die anderen nicht. Oder das Thema Ausländer: Die einen finden es bereichernd, Ausländer hier zu haben, weil sie die Schweiz bunter und offener machen. Andere meinen, sie bringen nur Probleme. Solche großen Themen also müssen präsent sein und als Missstände identifiziert werden. Das ist die gesellschaftliche Seite des Ganzen. Jetzt kommt noch der individuelle Aspekt dazu.

Der wäre?
Wenn Menschen an Bedeutsamkeit in ihrem Leben verlieren. Sie werden beispielsweise arbeitslos, trennen sich, ziehen um und müssen ein neues soziales Umfeld aufbauen oder ihr bislang geliebter Fußballclub steigt ab. Sie erfahren diese Ereignisse als einen Rückschritt in ihrem Leben. Plötzlich sind sie auf der Suche. Sie brauchen Orientierung, Identität. Diese Menschen sind besonders vulnerabel für die großen Themen. Nun: Es geht ihnen also schlecht und da kommt ihnen plötzlich die Idee, dass die Ausländer daran schuld sein könnten, sie surfen im Internet. Kurzum: Es kommt zu einer kognitiven Öffnung.

Könnte Ihnen als Kriminologe das passieren, wenn Sie die Arbeit verlieren?
Wir haben Jugendstudien gemacht, um der Frage nachzugehen, welche Jugendlichen sich extremistischen Positionen anschließen, und dabei festgestellt: Bildung etwa ist nicht per se ein Schutzfaktor vor Extremismus. Alle Sozialstatusgruppen, alle Milieus können davon betroffen sein.

Sind schmerzhafte Erfahrungen in der Kindheit Wegbereiter dafür, dass jemand später extrem wird? Der Psychologe Arno Gruen hat das anhand von Nazi-Biografien nachgewiesen.
Im Buch «Die Kindheit ist politisch» folgt der Autor Sven Fuchs ebenfalls dieser These: dass die Grundlage für extremes Verhalten und Extremismus in der Kindheit gelegt wird. Er weist dies an vielen Biografien nach. Das Buch enthält auch eine Kurzbiografie von Putin, der als Kind massiv geschlagen worden ist von seinen Eltern. Nun, da ist schon was dran, dass eine harsche, gewaltförmige Erziehungsmethode die Persönlichkeit beeinflussen kann. Ich bin jedoch immer sehr vorsichtig mit solchen Thesen. Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer.

Aber die Kindheit ist doch wichtig?
Ich gehöre zu den Forschenden, die sagen: Den Einfluss der Familie kann man gar nicht überschätzen. Familie prägt uns, in ganz vielen Sachen, die wir tun. Insbesondere negative Erziehungserfahrungen prägen uns. In der Forschung wissen wir mittlerweile, dass Kinder, die Gewalt erfahren haben, häufiger die Schule schwänzen, schlechtere Schulleistungen erbringen, geringere Lebenszufriedenheit, mehr Depressionen, Suizidgedanken haben sowie häufiger Gewalt anwenden. Und selbstverständlich taucht in dieser breiten Liste auch der Extremismus mit auf. Dennoch: Trotz dieser widrigen Bedingungen entwickeln sich viele dieser Menschen ganz positiv.

Aber sie müssen sich bemühen…
Ja, oder brauchen Unterstützung. Man schafft es normalerweise nicht aus sich selbst heraus. Unter Wissenschaftlern spricht man auch von Resilienz. Ein Resilienzfaktor ist zum Beispiel Intelligenz. Ein anderer: Humor. Aber auch der muss irgendwoher kommen.

Könnte ja genetisch sein?
Humor, genetisch? Da bin ich zurückhaltend. Was es braucht, sind verlässliche Menschen im Umfeld. Ich als Soziologe sage, es braucht eine Art Mentor, eine starke Person. Zum Beispiel eine Großmutter. Ich wurde auch geprügelt von meinem Vater. Dann ist das Beste passiert, was mir passieren konnte: Meine Eltern trennten sich. Danach hatte ich immer gute Fußballtrainer, die mir Orientierung gaben. Gute, besorgte, interessierte Menschen um sich zu haben, das hilft.

Vor ein paar Jahren hatten wir null rechtsextreme Gewaltvorfälle in der Schweiz.

Ich kenne einen Berner, der ist in den 80er-Jahren nach Nicaragua gegangen, um die Sandinisten zu unterstützen. Als die Kugeln über ihm hin und her flogen, fragte er sich: Was mache ich eigentlich hier?
Hier möchte ich zu den zwei vorher aufgeführten Punkten, wie jemand extrem werden kann, einen dritten anfügen: Um sich zu radikalisieren, braucht es existente Netzwerke oder Gruppen. Menschen haben eine enorme Kraft, jemanden reinzuziehen ins ideologische Denken, in den Extremismus. Das Gefährliche zurzeit ist, dass man diese Gruppen wie «QAnon» oder «Junge Tat» mittlerweile mit zwei Klicks im Internet findet.

Warum gibt es Menschen, die gewaltbereit sind, und andere wie der Berner, der die Übung in Nicaragua abgebrochen hat, nicht?
Dort entscheidet sich ja der Extremismus. Wenn ich mit den falschen Menschen herumhänge, kann diese letzte Schranke fallen. Auf einmal bin ich bereit, einen Stein auf einen Polizisten zu werfen. Und das nächste Mal ist es nicht ein Stein, sondern ein Molotow-Cocktail. Jeder kann sich in so einer Form radikalisieren. Dass es am Ende so wenige sind, das hängt damit zusammen, dass die Schulen, Nachbarschaften, Familien gute Arbeit leisten. Wenn aber diese drei erwähnten Punkte zusammenkommen, kann es plötzlich rasch gehen. Das haben wir bei den Coronaprotesten gesehen, wie schnell sich das hochschaukelte.

Wenn es um extremes Verhalten oder Extremismus geht, muss man wohl jedes Land einzeln betrachten?
Genau. Extremismus hat immer eine sehr regionale oder national spezifische Komponente. In Deutschland geht es im Rechtsextremismus viel um den Islamismus, weil dort die türkische Bevölkerung präsent ist. In der Schweiz geht es dagegen mehr um Menschen aus Afrika.

Generell: Ist die Schweiz in den letzten zehn Jahren extremer geworden?
Ich bin ein Freund der Zahlen, denn das Bauchgefühl sagt immer: Es wird schlimmer. Das hängt damit zusammen, dass man sich meist nur ein halbes Jahr zurückerinnert und da rasch ein paar schlimme Vorfälle im Kopf präsent hat. Die Zahlen des Bundes zeigen, dass rechtsextremistische Gewalt im Vergleich zu vor zehn Jahren definitiv zurückgegangen ist. Vor ein paar wenigen Jahren hatten wir null rechtsextreme Gewaltvorfälle in der Schweiz. Das ist natürlich grad aus einer deutschen Perspektive kaum glaubhaft.

Und die linksextremen Gewaltvorfälle?
Die sind häufiger. Aber auch da sind in den letzten fünf Jahren leichte Rückgänge zu verzeichnen. Wir reden dabei von den registrierten Gewalttaten. Unter der Oberfläche gärt es ständig. In Deutschland kam es vor Kurzem wieder zu einer Vereitelung eines islamistischen Anschlags.

Gewalttätige Demonstrationen, Hooliganismus, Dispute – sind wir aggressiver geworden?
Wenn wir mal eine ganz lange Perspektive einnehmen, muss man sagen, wir stellen bei westlichen Gesellschaften eine zunehmende Zivilisierung fest. Formen von schwerer Gewalt – Raub, Körperverletzung, Tötungsdelikte – nehmen ab. Grundsätzlich wird es besser. Das hat jedoch zur Folge, dass wir aufmerksamer werden für Phänomene, die in dieses Besserwerden nicht reinpassen. Anders gesagt: Diese Inseln der Gewalt, sei es im Sportbereich, Extremismus oder Jugendbereich, die fallen dann besonders auf. Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz werden wir friedlicher und reflektierter. Im Übrigen: In jüngsten Studien wurde auch sichtbar, dass der Anteil an Menschen, die Verschwörungstheorien zustimmen, während der Pandemie in der Schweiz gesunken ist. ♦

 

Dieses Interview erschien erstmals im Magazin frei denken.

Teil 2 der Mini-Serie «Extremismus» können Sie hier lesen.

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