Gonso kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus: Hat ein unsichtbares Gas die Menschen in einen neuen Bewusstseinszustand versetzt?
1. April 2024, 20:00 Uhr. Heute war ein seltsamer Tag. In der ganzen Zeit, die ich bisher auf dem blauen Planeten verbracht habe, haben sich die Menschen noch nie so merkwürdig benommen. Dabei weiß ich gar nicht, ob ich sagen soll, dass ihr Verhalten «abnormal» ist – denn eigentlich ist es endlich so «normal», wie man es von einer angeblich intelligenten Spezies erwarten würde. Abnormal ist das Ganze jedoch, weil sich die Erdbewohner gemäß meiner bisherigen Beobachtungen grundsätzlich widernatürlich gehaben.
In meinen Funksprüchen vom 23. Januar 2023 und vom 24. Juli 2023 habe ich darüber berichtet, wie ein großer Teil der Menschen ihr Wohlbefinden wissentlich von Aktivitäten abhängig macht, die ihren Planeten vergiften und ihn auf lange Sicht unbelebbar machen. Nun, es scheint, dass letzte Nacht etwas passiert ist, was alles verändert hat. Ich gehe von einem Meteoritenschauer aus, der in nächster Nähe des blauen Balls vorbeizog und eine unsichtbare gasförmige Substanz freisetzte, die das Bewusstsein der Menschheit innert kürzester Zeit auf ein völlig neues Niveau katapultierte.
Ab heute arbeitet jeder Erdling nur noch zum Wohl der Allgemeinheit.
Schon am frühen Morgen hörte ich Politiker und Firmenbosse davon reden, dass ein radikaler Wandel nötig sei. Dass die Wirtschaft nicht weiter wachsen, sondern nachhaltiger werden solle, und zwar sofort. Dass die überschüssigen Gewinne nicht mehr an ohnehin schon reiche Führungspersonen verteilt werden dürfen, sondern an Familien mit geringem Einkommen. Dass allen Menschen die gleichen Rechte zustehen, und zwar nicht nur auf dem Papier.
Dass Grenzen und Nationalitäten aufgehoben werden und ab heute jeder Erdling nur noch zum Wohl der weltweiten Allgemeinheit arbeitet. Wogegen alle Tätigkeiten gebrandmarkt und mit hohen Kompensationssteuern belegt werden, die nur einem Individuum, eine Gruppe oder einem Weltteil Vorteile bringen, aber anderswo auf der Welt Schaden anrichten.
Weil die Grenzzäune und -mauern abgerissen und die Kontrollposten verlassen werden, können sich alle frei bewegen und sich dort niederlassen, wo sie möchten. Doch gleichzeitig wird es durch die neue Ausrichtung von Politik und Wirtschaft keine Menschen mehr geben, die sich auf Grund einer Notlage gezwungen sehen, von einem Ort wegzugehen, an dem sie gerne bleiben würden: kein Hunger, keine Klimakrise, keine Kriege, keine Armut.
Die Produktion und der Verkauf von Waffen wird sofort eingestellt, und statt Geld in die Armee zu stecken, wird ein großes Budget für alternative Energieerzeugung und eine natürliche, giftfreie Nahrungsmittelproduktion bereitgestellt.
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So ging es weiter und weiter, den ganzen Tag lang. Ich hatte nicht einmal Zeit, mir alle Begriffe zu notieren, die ich nicht verstand. Ich war zu sehr damit beschäftigt, den vielen Reden zuzuhören. Und mich zu wundern, dass niemand widersprach, niemand die Machthaber für verrückt erklärte, auch wenn es klang, als hätten sie sich auf den Kopf gestellt. Es war, als ob alle Menschen gleichzeitig erwacht wären: Nur mit einem entsetzten Kopfschütteln erinnerten sie sich an die Werte und Praktiken, die gestern noch als normal gegolten hatten.
Ich begann, einen umfassenden Report darüber zu schreiben, was diese plötzliche Erleuchtung ausgelöst haben könnte und wie man diese Wunderheilung auf anderen erkrankten Planeten anwenden könnte. Noch nie in meinem Leben war ich von einem solchen Enthusiasmus erfüllt gewesen, denn ich wurde gerade Zeuge eines Evolutionssprungs, wie er nie zuvor aus nächster Nähe beobachtet worden war. Auch wenn ich nur ein kleiner Feldforscher bin – diese Aufzeichnungen würden als Jahrtausendereignis in die Geschichte des Universums eingehen und als Leitfaden für viele Generationen von All-Heilern dienen.
Derjenige, der die kühnste Lüge erzählt, heimst den Respekt der ganzen Gemeinschaft ein.
Doch dann, am späten Abend, zerplatzte diese Illusion wie eine der Seifenblasen, die die Erdenkinder in die Luft pusten. Wie auf Kommando begannen alle, die eine große Rede zum Wohl der Menschheit und des Planeten geschwungen hatten, lauthals zu lachen und sich auf die Schenkel zu klopfen: «April, April!», schrien sie und grölten grotesk. «Wer war derart bescheuert, etwas so Abwegiges zu glauben?»
Und so erfuhr ich, dass hier auf der Erde an jedem 1. April ein absurder Wettbewerb begangen wird: Derjenige, der die kühnste Lüge erzählt und es schafft, dass die anderen ihm glauben, ist der Größte und heimst den Respekt der ganzen Gemeinschaft ein. Was mir vor allem deshalb seltsam erscheint, weil die größten Lügner und Betrüger auf der Erde ohnehin meist diejenigen sind, die am meisten Macht und Ruhm haben. Alles wieder beim Alten also, auch meine bisherige Einschätzung der Erdbewohner: entartet. ♦
Aufgezeichnet von Nicole Maron
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