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Internationaler Tag des Flamenco

Das feurige Lebensgefühl

Im Süden Spaniens wird der Flamenco beinahe bei jedem Fest gesungen, geklatscht, getanzt. Er gehört zum Leben. Es verwundert also nicht, dass er 2010 von der Unesco zum Immateriellen Weltkulturerbe erklärt wurde.

Die Show beginnt. Auf der großen Bühne setzen sich drei Musiker auf Holzstühle, die im Kegel des Scheinwerferlichts stehen. Rundherum Dunkelheit. Die Gitarre fängt an zu klingen. Es ist dieses Gitarrenspiel, das in den Raum tröpfelt, Ton um Ton, betörend, manchmal wild, manchmal bedacht und sanft, aber immer durchdringend. Dann stimmt der Sänger ein. Mit jenem Singsang, der in die Welt hinausruft, klagend, und gleichzeitig Hoffnung versprüht. Das Konzert in einem Kulturhaus in der südspanischen Küstenstadt Nerja wird das Publikum auf eine Reise durch alle Gefühlszustände führen. So ist Flamenco. Er ist Melancholie, Herzschmerz, Wut, Freude und Liebe.

Und er ist Alltag, in Andalusien. Wenn man sich hier mit Freunden trifft, zu einem Trunk oder Essen, dann geschieht es oft, dass jemand plötzlich aufsteht, eine Strophe aus einem Flamencolied singt und dazu ein paar Tanzschritte macht. Der Flamenco ist Improvisation. Leben. Er kann von einem Moment auf den anderen entstehen. In einer geselligen Runde fängt irgendjemand an, mit dem Handknöchel einen Rhythmus auf den Tisch zu klopfen. Sofort begleiten andere den Rhythmus mit Händeklatschen oder sie schlagen dazu mit dem Löffelchen einen Takt an der Kaffeetasse. Olé. Und wenn man nicht selbst musiziert: Ein Flamenco-Gitarrist hält immer mal vor der herausgestuhlten Tapas-Bar und bespielt die Gäste.

«Er traf mich mitten ins Herz»

Zurück zum Kulturhaus: Eine Tänzerin betritt die Bühne. In einem feurig roten langen Kleid. Alle Blicke richten sich auf sie. Es ist Michelle La Caoba, so der Künstlername. Sie verschmilzt tanzend mit den Klängen der Musiker und fetzt immer energischer über die Bühne. Sie stampft mit den Flamencoschuhen auf den Boden und wirbelt das rote Schleppenkleid anmutig umher. Das Publikum ist gebannt. An diesem Abend wird Michelle La Caoba verschiedene Flamencotänze aufführen, stets in neuen farbenprächtigen Kleidern. «Caoba» bedeutet übersetzt «Mahagoni», das Edelholz, ihr Künstlername also ist sinngemäß: Michelle, das Edelholz.

Die Überraschung: Die andalusische Tänzerin heißt eigentlich Michaela Schwammberger und kommt aus Basel. Wieso ist sie hier? «Andalusien ist die Wiege des Flamencos, deswegen», sagt die 58-Jährige auf Schwiizerdütsch. Nachdem sie im alten Basler Stadttheater auf knarrenden Holzböden als Kind mit klassischem Ballett ihre Tanzkarriere begonnen hatte, zog es sie später in die Welt hinaus – bis nach New York. «Primaballerina, das ist damals mein großer Traum gewesen. Da kannte ich Flamenco noch nicht.» Bis hin zu Broadway Musical Dance studierte sie in New York alle möglichen Tanzstile. So kam es, dass sie eines Tages in eine Flamenco-Tanzstunde hineintappte: «Das war Liebe auf den ersten Blick. Also … ich liebe ja alle Tanzformen, aber der Flamenco traf mich mitten ins Herz.»

Ein Potpourri

So ist Flamenco. Pure Leidenschaft. Entstanden aus Schmerz und Lebenslust, in den Hinterzimmern der andalusischen Häuser. Das Wandervolk Roma, das ursprünglich aus Indien stammt, ließ sich im 15. Jahrhundert im Süden von Spanien nieder – und brachte seine Musik mit. Von Anfang an und über Jahrhunderte hinweg sahen sich die Roma jedoch schweren Repressalien ausgesetzt. Auch das Musizieren und Singen auf öffentlichen Plätzen wurde ihnen untersagt.

Nichtsdestotrotz fing die Verschmelzung der andalusischen Volksmusik mit der Musizierweise der Roma – heute Gitanos genannt – sobald an. Weiter trugen die jüdischen Siedler mit ihrer Musik zur Entstehung des Flamencos bei. Die Händler waren früher in Andalusien weit verbreitet. Und nicht zu vergessen ist natürlich, dass Südspanien Jahrhunderte lang unter arabischer Herrschaft gestanden hat. Der Flamenco enthält viele Merkmale orientalischer Musik. Um nur einige Einflüsse zu nennen. Flamenco ist ein Potpourri.

Als Tänzerin kannst du alle Emotionen wiedergeben.

In der spanischen Gesellschaft wurde der Flamenco, der sich zunächst alleine im Gesang ausdrückte, abgelehnt. Zu einem Kulturgut des Landes entwickelte er sich erst im Verlauf vieler Jahre. Bis er schließlich von der Unesco 2010 sogar zum Immateriellen Weltkulturerbe erklärt wurde.

18 Jahre lebte Michaela Schwammberger in den USA. Dem Ruf des Flamencos konnte sie sich nicht mehr entziehen. Also verließ sie Amerika 2008 und kam nach Málaga. Mit ein paar wenigen Unterbrüchen lebt sie seither in Südspanien. Sie unterrichtet Flamenco und tritt regelmäßig in Restaurants, Kultur- und Theaterhäusern auf. «Flamenco ist der ausdrucksstärkste Tanz, den es überhaupt gibt. Als Tänzerin kannst du alle Emotionen wiedergeben, von glücklich, betrübt, sensibel über wütend, verspielt und flirtend.» Im Unterschied zum Ballett, wo man eine vorgegebene Rolle spielt, sei der Flamenco ein persönlicher Tanz, in dem man sich selbst begegnet. Mehr noch: «Er ist Freiheit. Du kannst auf den Boden stampfen und niemand sagt zu dir: ‹He, mach nicht so viel Lärm›», sagt sie und lacht.

Ein Touristenspektakel

Vom Privaten an die Öffentlichkeit: Der Flamenco gewann an Bedeutung, als die «cafés cantantes» aufkamen. Diese speziellen Cafés oder besser gesagt Flamenco-Nachtlokale mit kleinen Bühnen waren von 1850 bis 1936 populär. Zum Teil gingen sie aus Ballettschulen und Tanztheatern hervor. Auf jeden Fall machten sie den Flamenco einem großen Publikum vertraut. Die Flamenco-Künstler professionalisierten sich. Außerdem setzten sich nun die Gitarre als Begleitinstrument sowie der Tanz durch. Ganz neu war: Nicht-Gitanos stiegen als Künstler auf die Bühne.

«Mittlerweile ist der Flamenco auf der Bühne oft ein Touristenspektakel» sagt Michaela Schwammberger. In jeder größeren Stadt Spaniens fänden sich Tablaos, wie die Kleintheater mit Bühne und Bistrotischen heutzutage genannt werden. Zu Tapas und Wein kann man eine Flamenco-Show genießen. «Klar, während der Coronakrise mussten alle schließen», fährt die Baslerin fort. «Der Flamenco ist einer der wichtigsten Kulturgüter Spaniens, die ganze Flamenco-Branche jedoch kriegte während dieser Zeit keine staatliche Unterstützung.» Die Künstler und Veranstalter demonstrierten in allen Großstädten.

Michelle La Caoba klatscht in die Hände und auf ihre Oberschenkel. Jetzt steht sie in einem blumigen Kleid mit gelber Rüscheli-Bluse auf der Bühne. Als Flamencotänzerin braucht sie ihren Körper auch als Instrument. «Wir können ja Perkussion mit den Händen und mit den Füßen machen.» Ferner gibt sie damit Zeichen an die Musiker, wohin der Tanz und somit auch die Musik gehen werden. Denn als Tänzerin gibt sie den Ton an. Die Musiker folgen ihr.

Ein Leben ohne Flamenco? Für die Andalusier: niemals. Für Michaela Schwammberger: unvorstellbar. Wenn sie eine Zeit lang nicht tanzen könne, wie während der Monate in der Coronakrise, dann sei das schlimm für ihr Herz und ihre Seele. «Flamenco ist eine Lebensphilosophie, ich trage ihn 24 Stunden in mir.» ♦

Internationaler Tag des Flamenco

Die Unesco hat am 16. November 2010 den Flamenco zum Immateriellen Weltkulturerbe erklärt. Damit wurde seine nationale, aber auch internationale Bedeutung hervorgehoben. Denn die lebendige kulturelle Ausdrucksform aus Spanien wird weltweit praktiziert. Nach seiner Ernennung durch die Vereinten Nationen wurde der «Internationale Tag des Flamenco» ins Leben gerufen. Seither werden besonders auf der Iberischen Halbinsel zahlreiche Veranstaltungen wie Konzerte, Ausstellungen, Konferenzen oder Shows jährlich durchgeführt. Auch an Schulen wird der Flamenco-Tag gefeiert.

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