Mensch. Gesellschaft. Meer.

andersRum #8

Ein Buch mit 365 leeren Seiten

Vorsätze zu fassen, ist nicht einfach. Sie zu halten, noch viel weniger. Wie mans trotzdem schafft, hat mir meine Großmutter beigebracht.

Willkommen im neuen Jahr. Ab heute gilt es ernst: Es geht ans Umsetzen der guten Vorsätze. Vielleicht gehören auch Sie zu denen, die genau einmal im Jahr, nämlich Ende Dezember, darüber nachdenken, was Sie in Ihrem Leben ändern möchten. Die Klassiker: sich gesünder ernähren, mehr Sport treiben, mehr Zeit mit der Familie verbringen, aufhören zu rauchen, weniger Geld ausgeben, dankbarer für die kleinen Dinge des Lebens sein.

Ja, am 1. Januar liegt das neue Jahr wie ein Buch mit 365 leeren Seiten vor einem, und man glaubt fest daran, dass man diese mit frischem Elan beschreiben und seine guten Vorsätze umsetzen kann. Doch dann kommt dies und das dazwischen: Die letzten Weihnachtsguetzli kann man ja nicht verderben lassen, die Diät kann noch eine Woche warten. Im Schneefall joggen zu gehen, ist nicht die beste Idee – auf die paar Tage kommts jetzt auch nicht mehr an. Im Büro stapelt sich nach den Ferien die Arbeit, und es ist schwierig, Zeit für einen Ausflug mit den Kindern freizuschaufeln. Als ob dies nicht schon genug wäre, haben alle Läden Ausverkauf – wär doch schön blöd, sich die Schnäppchen entgehen zu lassen.

So wirds Februar, und man ist wieder im alten Trott gefangen. Ist ja eh alles nicht so tragisch, letztes Jahr gings doch auch, und sooo schlimm ist das ja nicht mit den paar Zusatzkilos auf der Waage und dem Loch auf dem Konto. Doch spätestens im kommenden Dezember ärgert man sich, dass man so schnell aufgegeben hat, und denkt: nächstes Jahr ganz bestimmt!

«Die Sucht hat ihre Rechnung ohne Grosi gemacht.»

Um gute Vorsätze umzusetzen, muss man sich selbst überlisten. Das schaffte meine Großmutter, als sie sich die Zigaretten abgewöhnen wollte, nachdem sie vierzig Jahre wie ein Schlot geraucht hatte. Obwohl ihr der Arzt nach einem Lungencheck gesagt hatte, «Sie haben Lungen wie eine Zwanzigjährige, Sie haben sicher nie geraucht!», beschloss sie eines Tages, das Rauchen auf ein Minimum zu beschränken. Fünf Zigaretten pro Tag wollte sie sich genehmigen, denn ein bisschen Genuss durfte schon noch sein.

Jeder, der einmal aufgehört hat zu rauchen, weiß, dass dieser Vorsatz praktisch unmöglich umzusetzen ist. Entweder hört man ganz auf oder man raucht weiter – so diktiert es die Sucht. Doch die hat ihre Rechnung ohne mein Grosi gemacht. Sie war zu diesem Zeitpunkt schon fast 80, und das Treppensteigen machte ihr zunehmend Mühe. Da sie im vierten Stock wohnte und das Haus keinen Lift hatte, ging sie genau einmal am Tag aus dem Haus: zum Supermarkt und aufs Grab ihres Mannes. Beim Heimkommen leerte sie den Briefkasten. Doch da lag nicht nur Post, sondern auch die Zigarettenschachtel, die sie dort deponiert hatte. Zusammen mit den Briefen nahm sie ihre Tagesration, fünf Kippen, mit hinauf. Wenn sie die Lust überkam, mehr zu rauchen, lagen zwischen ihr und dem Nachschub vier Stockwerke, die sie zwar noch meistern konnte, doch mit immer größer werdender Anstrengung. Dies reichte meistens aus, um das Verlangen im Keim zu ersticken.

Ja, Grosi war genauso eigensinnig wie schlau – und eine Meisterin im Umsetzen von guten Vorsätzen. Hat sie mir leider nicht weitervererbt. ♦


Mit diesem Text endet die Kolumnen-Reihe andersRum. Die bisher erschienenen Texte könnten Sie hier lesen.

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