Mensch. Gesellschaft. Meer.

Frau Müller, she knows #5

Hands off

Der Sommer ist gerade erst vorbei, da denkt Frau Müller schon voller Freude an ihren Herbsturlaub. Erstens hat sie den absolut verdient und zweitens wird er besonders prickelnd. Warum, das erklärt sie uns natürlich, mit ordentlich Ironie.

Foto: Kitty/cal

Als im Sommer aus Bella Italia eine Meldung nach Deutschland schwappte, war ich in heller Aufregung: «Freispruch nach Grabsch-Attacke wegen 10-Sekunden Regel». Das schlug natürlich ein wie eine Bombe. Und mir war sofort klar: Italien, ich komme! Rom ist schließlich immer eine Reise wert, und Männer gibt es dort an jeder Ecke. Eine Freundin von mir war ebenfalls hellauf begeistert: Da komme sie doch sofort mit.

Seitdem steigt täglich die Vorfreude auf unseren Aufenthalt in der italienischen Hauptstadt, doch neben Vatikanmuseen, antiken Gebäuden und Pizza, Kirchenfresken, Aperol und Trevibrunnen freuen wir uns vor allem auf die knackigen (und natürlich jungen) Römer. Ob im Bus, im Café oder auf der Spanischen Treppe. Endlich mal nach Herzenslust anfassen, was so Verführerisches vorbeikommt. Herrlich! Was in anderen Ländern gar nicht goutiert wird, ist hier für bis zu zehn Sekunden erlaubt: Das Begrapschen anderer Menschen ohne deren Zustimmung und ohne rechtliche Konsequenzen. In Italien weiß Frau noch zu leben. So geht halt Dolce Vita. Da greifen wir natürlich gern zu, schließlich sind wir im Urlaub und können mal so richtig die Sau, äh, die Frau rauslassen. Und nach zwei bis fünf Gläsern Rotwein sind wir dann auch nicht mehr so wählerisch, Jungs, da kommt ihr alle mal ran. Zwinker.

Klar gibts bestimmt welche, die sich beschweren werden, vor allem wenn dann mal meine Hand ein paar Sekunden mehr am Gesäß aufliegt als für zehn Sekunden. Aber so what, das sollen die Jungs uns erst mal beweisen. Viele tun ja eh nur so, als ob sie das stören würde. Ganz besonders die Männer mit den knappen und engen Hosen und den Shirts, wo man komplett die Brustwarzen sieht. Die ziehen das extra an, damit sie eine Frau abkriegen, ganz klar, da machen wir uns mal nix vor. Die tun zwar immer ein bisschen auf kalte Schulter, aber am Ende heißt das schließlich auch «Ja». Und die ganz Zickigen, ja Gott, die verstehen halt keinen Spaß. Denn darum gehts doch beim Fummeln. Das wird ein Traumurlaub, bestimmt!

Und jetzt Ironie und «Spaß» beiseite: Im Juli 2023 wurde von einem italienischen Gericht beschlossen, den Hausmeister einer Schule nach einem sexuellen Übergriff an einer Schülerin freizusprechen. Begründung: Die Berührung habe ja nur etwa zehn Sekunden gedauert. Mein erster Gedanke war: Das muss wohl Satire sein. Umso größer war mein Entsetzen, dass es sich hier um die bittere Realität handelt. Das Gericht sah in diesem Übergriff nämlich kein Verbrechen, sondern nur eine ungeschickte Aktion. Schließlich sei das Ganze «aus Spaß» geschehen.

Daraufhin folgte eine internationale Welle der Empörung, und vor allem Unterstützung für die Schülerin in den sozialen Medien mit dem Hashtag #10secondi. Unzählige Videos mit Menschen, die sich selbst zehn Sekunden anfassen, beziehungsweise anfassen lassen, wurden ins Netz gestellt und demonstrieren eindrücklich, wie quälend lange zehn Sekunden sein können.

Aber ganz abgesehen davon, eine Person gegen ihren Willen zu berühren, ist und bleibt ein No-Go. Daran sieht man, welchen weiten Weg wir noch vor uns haben.

Wie auch immer, gut, dass mein Timer am Handy immer auf 10 Sekunden eingestellt ist. Aber jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss packen. Rom und die Römer warten auf mich, Sie wissen schon … In diesem Sinne. ♦

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