Mensch. Gesellschaft. Meer.

Faszination Amazonas, Teil 2

Von Schlangen, Jaguaren und Baumgeistern

Die Indigenen des Amazonasgebietes leben weitgehend im Einklang mit der Natur. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass sie glauben, dass früher alle Wesen den gleichen Stellenwert hatten: Tiere, Pflanzen, Steine, Bäche, Wasserfälle, Bäume und Menschen.

Foto: Nicole Maron

Da fliegt ein Vogel hoch und lässt einen Ast zurückschnellen, dort schwingt sich ein Affe durchs Blätterwerk und verschwindet so schnell, dass man kaum einen Blick auf ihn erhaschen kann. Wenn man nicht aufpasst, kratzt man sich Arme und Beine an dornigem Gestrüpp auf, denn einen Weg gibt es hier nicht. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als denen zu vertrauen, die sich hier auskennen, und ihnen dicht auf den Fersen zu bleiben. Einmal ist jemand zu weit zurückgeblieben, erzählen sie, und hat in der dichten Vegetation innert weniger Minuten die Orientierung verloren. Dass er fehlte, haben sie erst bemerkt, als sie schon fast wieder in der Ortschaft waren – und dass sie ihn wiedergefunden haben, war reines Glück.

Doch auch wenn man mit Ortskundigen unterwegs ist, kann es passieren, dass man plötzlich bis zum Oberschenkel in ein von Blättern bedecktes Loch absackt. Oder dass man vor einem Bach steht, der zu breit ist, um ihn mit einem Sprung zu überwinden. Dann gibt es drei Möglichkeiten: Erstens, die Schuhe ausziehen und das Wasser barfuß durchwaten, was angesichts der herumsummenden Mückenschwärme, die nur auf frisches Blut warten, nicht allzu empfehlenswert ist. Zweitens, den Bach mitsamt Schuhen durchwaten und nachher den ganzen Tag mit durchnässten Socken ausharren. Drittens, einen Baumstamm suchen, den man zur Brücke umfunktionieren kann. Doch das ist gar nicht so einfach. Ist er zu dick, kann man ihn nicht heben. Ist er zu dünn oder zu nass, könnte er brechen. Doch selbst wenn der perfekte Stamm gefunden und über den Fluss gelegt ist, ist die Überquerung kein leichtes Unterfangen. Sicheres Balancieren in gut zwei Metern Höhe ist gefragt, wenn man nicht doch noch im Wasser landen will.

Das Dasein in seiner ursprünglichen, unverfälschten Form erleben

Wir befinden uns in der Nähe der peruanischen Stadt Iquitos, am Ufer des Amazonas. Auf einigen Abschnitten des wilden Weges sind Trampelpfade erkennbar, an anderen Stellen muss man sich mit der Machete durch das Dickicht kämpfen, um einigermaßen vorwärts zu kommen. «Hier hat mich einmal eine Schlange gebissen, voll in die Hand», erzählt unser Begleiter Ruperto, der das Gebiet kennt wie seine Hosentasche – er ist ein lokaler Kleinbauer und baut ganz in der Nähe Bananen und Maniok an. «Ich griff nach einer Pflanze, um sie beiseite zu biegen, und schon hatte sich die Schlange zwischen Daumen und Zeigfinger festgebissen. Bis heute sieht man die Narben.» Auch Jaguare und andere Wildtiere sind auf diesen Pfaden unterwegs. Normalerweise bekommt man sie nicht zu Gesicht, doch man kann davon ausgehen, dass jeder Schritt, den man hier tut, von unzähligen Augen und Ohren registriert wird.

Wenn man sich überlegt, was einem hier alles passieren könnte, müsste man die praktisch unberührte Wildnis als beängstigend empfinden. Doch oft passiert im Dschungel genau das Gegenteil. Man fühlt sich vollkommen sicher. Auf der Hut, ja, wachsam, aber sicher. Auf faszinierende Weise eingebunden in einen riesigen, pulsierenden Organismus. Es ist feucht, es ist schlammig, man ist verschwitzt und schmutzig, die Mücken laben sich an jedem freiliegenden Stück Haut – aber es ist alles gut. Als ob man das Dasein in seiner ursprünglichen, unverfälschten Form erleben würde.

Als Kinder wurde uns gesagt, wir sollen keine Bäume verletzen, weil sie uns verfluchen könnten.

Der Urwald ist eine Sphäre mit ganz eigenen Gesetzen. Der Mensch dringt zwar auf zerstörerische Weise in ihn ein – aber nur bis zu einem gewissen Punkt. In Inneren des Dschungels verbergen sich Geheimnisse und Mysterien, die wir nur erahnen können. Die indigene Bevölkerung des Amazonasgebietes erzählt Legenden von alten Zeiten, in denen alle Wesen die gleiche Bedeutung und den gleichen Stellenwert hatten: Tiere, Pflanzen, Steine, Bäche, Wasserfälle, Bäume und Menschen. Keiner stand über den anderen, keiner war wichtiger oder mächtiger. «Wir nennen sie ‹ans›, was übersetzt soviel wie Personen oder Wesen heißt», erzählt Yanua Atamain, eine indigene Leaderin der Awajún. «In anderen indigenen Sprachen werden andere Namen verwendet, doch die meisten teilen diese Perspektive, dass wir ursprünglich alle gleich waren. Daraus leitet sich auch der große Respekt vor der Natur und allen Lebewesen ab. Die Berge und der Wald sind nicht einfach Materie, sondern haben Leben und strömen eine starke Energie aus. Deshalb wurde uns als Kinder auch gesagt, dass wir keine Bäume verletzen sollen, weil sie uns verfluchen könnten. Besonders alten, großen Bäumen können sich nur Schamanen annähern, die mit dieser Kraft umgehen können, für alle anderen ist es gefährlich. Man sagt wörtlich: Sie können deinen Geist auffressen, so dass du krank wirst.»

Der Berg muss schweigend überquert werden

«Natürlich fällen wir auch Bäume, zum Beispiel weil wir Holz brauchen oder ein Stück Erde, um Landwirtschaft zu betreiben», sagt Atamain. «Doch ich erinnere mich gut, wie mein Vater und mein Großvater mit den Bäumen sprachen, bevor sie sie fällten. Man bittet um Erlaubnis und spricht Dank dafür aus, dass man durch die Hilfe der Natur seine Familie ernähren kann.»

Auf diese Weise mit Tieren oder Pflanzen in Kontakt zu treten, mag für Menschen mit westlicher, rational-aufgeklärter Weltanschauung seltsam erscheinen. Doch für die Indigenen ist dies seit vielen Generationen eine Selbstverständlichkeit. «Die Tatsache, dass wir Wasser oder Felsen nicht sprechen hören, bedeutet nicht, dass sie nicht mit uns kommunizieren», sagt Atamain. «Ich erinnere mich, dass ich einmal mit meinem Vater unterwegs war, wir bestiegen einen Berg. Ich war von großem Glück erfüllt und juchzte laut heraus. Doch mein Vater sagte mir, ich solle ruhig sein, um den Berg nicht zu stören. Den Berg müsse man schweigend überqueren, warnte er mich, sonst beginne es zu regnen und zu stürmen. Und genau das ist uns passiert: Wir wurden bis auf die Haut durchnässt.»


Teil 1: «Hier ist alles laut und riesig» 

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