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Gesundheit

WHO will die traditionelle Medizin stärken

Am ersten Weltgipfel für traditionelle Medizin kam die Weltgesundheitsorganisation einmal mehr zum Schluss, dass alternative, seit Generationen überlieferte Heilmethoden weltweit in die Gesundheitssysteme integriert werden sollen. Zurzeit gibt es nur in 124 Staaten entsprechende Gesetze.

Foto: Stefan Schweihofer

Minister, Wissenschaftler und Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich sowie Praktiker von alternativen Heilmethoden kamen im August im indischen Gandhinagar am ersten Weltgipfel für traditionelle Gesundheit zusammen. Von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) organisiert, bestand das erklärte Ziel des Gipfels darin, einen Konsens darüber zu finden, wie die traditionelle Medizin in die bestehenden Gesundheitssysteme integriert werden kann. Schließlich sind traditionelle Heilmethoden für große Teile der Weltbevölkerung die erste Wahl. Die WHO schätzt, dass sie in neun von zehn Ländern angewandt werden – zum Beispiel in Form von pflanzlichen Arzneimitteln, Akupunktur, Yoga und einer breiten Palette regionaler Therapiemethoden.

Diese Praktiken waren über Jahrhunderte hinweg die Säulen der Gesundheit auf allen Kontinenten und sind nach wie vor für Millionen von Menschen unverzichtbar. Auch weil viele keinen Zugang zur Schulmedizin haben, die im Allgemeinen teurer ist. Darüber hinaus haben die alten Weisheiten die Grundlagen für die medizinische Wissenschaft gelegt: Die in der traditionellen Medizin verwendeten natürlichen Inhaltsstoffe haben die moderne Pharma-, Schönheits-, Wellness- und Gesundheitsindustrie erst möglich gemacht. Nach Angaben der WHO werden heute noch mehr als vierzig Prozent der Arzneimittel aus natürlichen Inhaltsstoffen hergestellt.

In vielen Staaten sind die sogenannten alternativen Heilmethoden jedoch nicht offiziell anerkannt – das heißt, sie sind nicht oder nicht vollständig in die nationalen Gesundheitssysteme integriert, und Krankenkassen übernehmen teilweise die Kosten für solche Behandlungen nicht.

Die traditionelle Medizin leistet einen enormen Beitrag zur menschlichen Gesundheit und besitzt großes Potenzial.

Mit dem Ziel, den Beitrag der traditionellen Medizin und des Heilwissens zu stärken und zu institutionalisieren, unternahm die WHO im März 2022 einen ebenso konkreten wie bedeutsamen Schritt: Sie gründete das Weltzentrum für traditionelle Medizin im indischen Jamnagar, deren Aufbau von der indischen Regierung mit 250 Millionen Dollar unterstützt wurde.

Mit dieser Initiative wollte die WHO das Potenzial der traditionellen Medizin nutzen, um die umfassende Gesundheitsversorgung weltweit zu verbessern und dabei moderne Wissenschaft und Technologie einzusetzen. Dieses Zentrum soll die Zusammenarbeit, die Information, die biologische Vielfalt und die Innovation koordinieren, die erforderlich sind, um den Beitrag der traditionellen Medizin zur globalen Gesundheit und zur nachhaltigen Entwicklung zu maximieren. Dabei sind die Achtung der Rechte indigener Völker sowie der lokalen Ressourcen sind wesentliche Bestandteile der Arbeit dieses Zentrums.

Die WHO arbeitet daran, Fakten und Daten zu sammeln, um Regeln, Standards und Vorschriften für die sichere, kosteneffiziente und gerechte Nutzung der traditionellen Medizin zu erarbeiten. Dies betonte auch WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus in seiner Eröffnungsrede auf dem Indien-Gipfel. Er erkannte an, dass «die traditionelle Medizin einen enormen Beitrag zur menschlichen Gesundheit geleistet hat und ein großes Potenzial besitzt». Als Beispiel nannte er die Verwendung eines Wirkstoffs aus süßem Wermut oder Artemisinin zur Behandlung von Malaria.

Laut Ghebreyesus ist eine der stärksten Grundlagen der traditionellen Medizin das «Verständnis für die enge Verbindung zwischen der Gesundheit der Menschen und unserer Umwelt». Die traditionelle, komplementäre und integrative Medizin sei besonders wichtig für die Vorbeugung und Behandlung von nicht übertragbaren Krankheiten, den Schutz der geistigen Gesundheit und die Gewährleistung eines gesunden Alterns.

Während des Gipfels richtete Ghebreyesus drei Forderungen an die internationale Gemeinschaft: Erstens sollen sich alle Länder dazu verpflichten, herauszufinden, wie sie die traditionelle und komplementäre Medizin am besten in ihre nationalen Gesundheitssysteme integrieren können. Außerdem sollten sie konkrete, auf soliden Argumenten und Beweisen beruhende Empfehlungen ausarbeiten, die als Grundlage für die Entwicklung der nächsten globalen Strategie für traditionelle Medizin dienen können. Und drittens sollte diese Veranstaltung als Ausgangspunkt dienen, «um eine globale Bewegung zu fördern, die das Potenzial der traditionellen Medizin freisetzt – und zwar durch Wissenschaft und Innovation.»

«Traditionelle Medizin ist sicher und wirksam»

Dieser Bereich der Gesundheitsversorgung ist für die WHO kein neues Feld. Bereits 2014 verabschiedeten die Mitgliedstaaten die erste globale Strategie zur traditionellen Medizin für einen Zeitraum von zehn Jahren. Die Weltgesundheitsversammlung in Genf verlängerte diese Strategie im Mai 2023 um zwei weitere Jahre und beschloss, dass eine neue Strategie für den Zeitraum von 2025 bis 2034 entwickelt werden sollte.

Für die WHO besteht kein Zweifel mehr: Traditionelle und komplementäre Medizin ist sicher und wirksam, und ihre Einbeziehung in die allgemeine Gesundheitsversorgung könnte diese weit über ihre derzeitigen Grenzen hinaus erweitern und ihre Kosten erheblich senken. Beide Argumente sollten die Staaten ermutigen, die traditionelle Medizin in ihre Gesundheitssysteme zu integrieren. Gegenwärtig gibt es nur in 124 Staaten entsprechende Gesetze oder Vorschriften.

Obwohl die Alternativ- und Komplementärmedizin aus dem Indien-Gipfel gestärkt hervorging, wird sie weiterhin im Mittelpunkt einer ungelösten Debatte stehen. Die Gegner, die häufig mit den großen Interessen des Gesundheitssektors verbunden sind, weisen darauf hin, dass es für einige alternative Therapien keine wissenschaftlichen Argumente gibt. Ihre Befürworter hingegen verweisen auf den Beitrag des überlieferten Wissens und stellen die im Westen vorherrschende Tendenz in Frage, Gesundheit als Geschäft und nicht als wesentliche öffentliche Dienstleistung zu betrachten. ♦

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