Mensch. Gesellschaft. Meer.

Frau Müller, she knows #6

Die Spitze des Eisbergs

Zur Weihnachtszeit hat Frau Müller zwar unheimlich viel zu tun, doch die einmalige Gelegenheit, eine neue, respektive alte Unbekannte zu interviewen, lässt sie sich nicht nehmen. Danke Klitoris, für Ihre Zeit!

Foto: mariatalks

Liebe Klitoris, erstmal schön, dass es mit dem Interview so schnell geklappt hat und Sie sich in der stressigen Weihnachtszeit freimachen konnten.
Klitoris: Vielen Dank, ich freue mich sehr über die Einladung. Tatsächlich gestaltet sich die Weihnachtszeit, und vor allem die Vorweihnachtszeit, für mich eher als eine ruhigere Zeit. Die Menschen sind im Stress und zugeknöpfter, und die Kälte tut ihr Übriges. Nichtsdestotrotz bin ich schon auch Weihnachtsfan. Denn seit ein paar Jahren gibt es vermehrt Geschenke zum Fest, die auch für mich einen – sagen wir mal – Unterhaltungswert haben.

Sie gelten in der Medizin und der sexuellen Bildung als Newcomerin und aufstrebender Shootingstar. Wie fühlt sich das an?
Das ist natürlich ein vibrierendes Gefühl, wenn unsereins da mehr Aufmerksamkeit bekommt. Allerdings muss ich eins klarstellen: Mich als Newcomerin zu bezeichnen, ist so nicht ganz korrekt. Zwar bin ich nun öfters in aller Munde, aber gegeben hat es mich schon immer. Auch war Wissen über mich schon vor 1998 da, als Helen O′Conell ihre aufsehenerregenden Forschungsergebnisse vorstellte. Und damit bewies, dass das klitorale System doppelt so groß ist, wie bis dahin in den Anatomiebüchern dargestellt. Nur schaffte ich es vorher einfach nie auf die Titelseiten und führte ein richtiges Nischendasein.

Was glauben Sie, warum waren Sie all die Jahre davor nicht so erfolgreich?
Ach wissen Sie, dazu hab ich mir in der ganzen langen Zeit viele Gedanken gemacht, und die Liste der Gründe ist lang. Mit die ärgsten Gegenspielerinnen waren schon immer die Unterdrückung der weiblichen Lust, die Angst vor selbstbestimmten Frauen und die Unwissenheit über den eigenen Körper. Dazu kommen noch meine Endgegner: die Kirche und das Patriarchat. Mit denen kämpfe ich heute noch.

Wow, das ist natürlich einiges an Gegenwind, da brauchen Sie ja wirklich Nerven.
Und wie, aber die habe ich zum Glück, mehrere tausende Nerven, und damit stehe ich dem Penis in keinster Weise nach. Das möchte ich hier noch einmal ausdrücklich betonen. Meine Größe liegt außerdem zwischen acht und 14 Zentimetern. Auch in diesem Punkt bin ich mit dem Penis gleichauf, warte aber immer noch darauf, gleichwertig in der Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Bisher hat der Penis ja immer den ganzen Fame abbekommen. Diese Ungleichbehandlung hat mich schon sehr geärgert und ich will, dass sich das ändert.

Sie standen also immer im Schatten des Penis sozusagen?
Ja, genau. Denn über ihn und dessen Orgasmus wissen die Menschen besser Bescheid. Sehen Sie, niemand würde doch auf den Gedanken kommen, dass man ohne Penisstimulation zum Orgasmus kommen kann. Genauso verhält es sich auch mit der Klitoris und dem Orgasmus. Leider kam dann irgendwann Herr Freud mit dem Märchen vom vaginalen Orgasmus um die Ecke. Haha, dabei umschließe ich doch die Vagina, das lässt sich doch gar nicht trennen! Trotzdem ist dieser Irrglaube weit verbreitet.

Wie wollen Sie sich in Zukunft besser vermarkten?
Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung, kann ich da nur sagen. Es sind immer noch Missverständnisse und Mythen im Umlauf, selbst bei Menschen, die eine Klitoris haben. Das macht mich immer traurig. Aber wie soll es denn auch besser werden, wenn die Kinder in der Schule nichts über mich lernen und ich nie in den Lehrbüchern vorkam? Die Unwissenheit ist immer noch groß, sogar bei Medizinern und Medizinerinnen. Denn leider hinkte die Medizin schon generell beim Thema Frauengesundheit immer hinterher. Da könnte ich Ihnen ganze Vorträge halten zu dieser Problematik, aber das würde hier den Rahmen sprengen.

Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?
Hoffentlich in allen Medizin- und Biologiebüchern der Welt, ganz selbstverständlich erwähnt und korrekt dargestellt.

Und was wünschen Sie sich zudem künftig?
Dass ich nicht mehr nur auf meine sichtbare Klitoriseichel reduziert werde, schließlich ist das nur ein kleiner Teil von mir, die Spitze des Eisbergs, quasi.

Das wünschen wir Ihnen auch und natürlich weiterhin viel Erfolg.
In diesem Sinne, frohe und (be-) sinnliche Weihnachten. ♦

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