Mensch. Gesellschaft. Meer.

Serie «Inklusion» Teil 2

«Es wird mehr Hirnverletzte geben»

Menschen mit einer Behinderung rutschen aus dem sozialen Netz. Als Leiter von Fragile Bern begleitet und berät Urs Rechsteiner Menschen mit einer Hirnverletzung. Er erlebt deren Ausgrenzung täglich. Und: Große Sorge machen ihm die helmlosen Lenker von Elektrofahrzeugen.

Foto: zvg/Fragile Suisse

Ein Mensch, der sich am Hirn verletzt hat − was bedeutet das für ihn gesellschaftlich?
Urs Rechsteiner: Das ist einfach erklärt: Wir als Gesellschaft können damit nicht sehr gut umgehen. Anders gesagt: Menschen, die ein bisschen Probleme machen, haben wir in der Schweiz schon immer gerne auf die Seite geschoben. Und gerade über Hirnverletzte weiß man wenig. Obwohl die Hirnverletzung die häufigste Behinderung im erwachsenen Alter ist.

Vor allem bei Älteren?
Nein, wir haben in allen Altersklassen Betroffene. Aber tatsächlich: Viele denken, das betrifft nur die älteren Menschen.

In dieser Serie berichtete Tobias Santschi im Teil 1 über seinen Unfall. Wegen seinen körperlichen Einschränkungen merkt man ihm an, dass etwas in der Vergangenheit vorgefallen ist. Wie ist das bei anderen Hirnverletzten?
Oft sieht man einem Hirnverletzten von außen nichts an. Ein Blinder hat einen weißen Gehstock oder eine besondere Brille und jemand anderes hat vielleicht einen klar ersichtlichen Rollstuhl. Ein Hirnverletzter dagegen hat keine Armbinde oder ein Käppchen auf dem Kopf, das seine Verletzung signalisieren würde, weswegen das den Umgang für alle sehr erschweren kann. Aber sogar Hirnverletzte, denen man das Handicap ansieht, müssen sich manchmal mit unangenehmen Situationen auseinandersetzen.

Wie meinen Sie das?
Es gibt Hirnverletzte mit ähnlichen körperlichen Einschränkungen wie Tobias, die durch den Bahnhof Bern gehen und dann von Passanten angesprochen werden mit Sätzen wie «Musst halt nicht Drogen nehmen» oder «Musst halt nicht so viel trinken, wenn du es nicht verträgst».

Hirnverletzung ist die häufigste Behinderung bei Erwachsenen, haben Sie gesagt. Was bedeutet das in Zahlen?
In der Schweiz leben 130’000 Personen mit einer Hirnverletzung. Und wir werden in den kommenden Jahren noch viel mehr Hirnverletzte haben. Wegen der Elektrofahrzeuge wie E-Fahrräder, E-Motorräder und E-Scooters. Für diese Fahrzeuge, die von vielen jungen Menschen benutzt werden, besteht keine Helmpflicht. Nicht zu vergessen ist, dass wir zunehmend Stress in der Arbeitswelt haben. Das hat Konsequenzen. So ist beispielsweise auch die Zahl der Hirninfarkte gestiegen. Denn: Wenn ich tagelang am Computer sitze, deswegen rund um die Schulter verspannt bin, ist das Gefäß-verengend. Und führt dazu, dass ich deswegen auch eine geringere Durchblutung im Kopf habe.

Zurück zur Gesellschaft: Inwiefern hilft sie Menschen mit einer Behinderung sich zu integrieren?
Wenn beispielsweise ein Hirnverletzter aus der Rehabilitation, der Reha, nach Hause kehrt, kommt das große Erwachen: Die ganze Struktur, die die Reha bietet, Physiotherapie, Logopädie, Essen, Zeiteinteilungen, alles ist weg. Plötzlich muss man alleine zurechtkommen. Das geht aber nicht. Aus diesem Grund ist Fragile entstanden, um Hirnverletzte in ihrem neuen Leben zu unterstützen. Ja, Menschen mit einer Behinderung rutschen aus dem sozialen Netz. Es gibt ja leider Leute, die auch der Meinung sind, dass man sie von Anderen separieren soll, etwa in geschützten Arbeitswerkstätten, wo sie einfältige Arbeiten machen müssen. Das ist entwürdigend. Das wollen wir nicht mehr, diese Bevormundung. Deswegen ist die Inklusions-Initiative wichtig, die lanciert worden ist und die Fragile mitträgt.

Eine Initiative für ein Leben auf Augenhöhe.
Im Umgang mit Menschen, die ein Handicap haben, werden wir null ausgebildet, haben kaum Erfahrung. Viele Menschen ziehen deshalb vor, nichts zu machen, wenn sie auf eine Person mit einer Behinderung treffen – weil sie überfordert sind oder Angst haben, etwas falsch zu machen. Deswegen ist es sehr wichtig, das Leben von Menschen mit Handicap einer breiteren Masse näherzubringen.

→ Mehr zur Initiative: am Freitag, im Teil 4 dieser Serie


Urs Rechsteiner ist seit über drei Jahren Leiter der Geschäftsstelle Fragile Bern. Davor hat der 65-jährige Berner und zweifache Vater als Jobcoach für Stellensuchende im Kanton Bern gearbeitet und eine Drogerie geführt.

 

 

Fragile Suisse

Fragile Suisse ist die schweizerische Patientenorganisation für Menschen mit Hirnverletzung und ihre Angehörigen. Sie bietet Dienstleistungen mit dem Ziel, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern und ihre Inklusion in die Gesellschaft zu fördern. Die Dachorganisation wurde vor über 30 Jahren gegründet. Die Sektion Fragile Bern feiert kommendes Jahr ihr 25-jähriges Jubiläum. Zu ihrem Angebot gehören unter anderem Sonntags-Brunchs, Kurse, Diskussionsrunden zu relevanten Themen für Hirnverletzte. Aber auch Sozial- und Rechtsberatung sowie Gespräche mit Familienangehörigen.

Fragile Suisse
Fragile Bern

Alle Teile der Serie «Inklusion» finden Sie hier.

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