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Kirche und Sexualität – Teil 2

«Gott ist kein Kleingeist, der sich für die Schlafzimmer interessiert»

Wenn Menschen Sexualität nicht leben können, macht sie das krank, sagt Karin Iten. Die studierte Naturwissenschaftlerin und heutige Präventionsbeauftragte des Bistums Chur sieht das Problem der sexualisierten Gewalt in der katholischen Kirche mittlerweile als ein weitgreifendes. Es betrifft auch das eigene Kirchenpersonal.

Foto: zvg

Mir sagte mal eine ältere Nonne, es sei so unerträglich, jahrelang keine Zärtlichkeiten zu bekommen. Sexualität und Religion: ein unendlich leidiges Thema, nicht wahr?
Karin Iten: Ja. Erst mal Hut ab vor dieser Frau, dass sie das so ehrlich sagt. Ein Leben ohne Sexualität und ohne Körperkontakt, das ist lebens- und menschenfeindlich. Der Mensch braucht Körperkontakt, und zwar in allen Altersstufen. Ohne eine Umarmung hie und da verkümmert man emotional. Dazu gibt es genügend Forschungen.

Und wenn es um die Sexualität geht?
Menschen sind sexuelle Wesen. Auch dazu gibt es Forschungen: Zwei Prozent der Menschen sind asexuell, das gibts. 98 Prozent jedoch haben sexuelle Bedürfnisse. Sexualität liegt in der Natur und in der Psyche des Menschen. In der Kirche ist es aber so, dass es heute noch Leute gibt, die die Meinung vertreten, sogar Selbstbefriedigung sei Sünde und Selbstzerstörung. Damit wäre dann die Sexualität gleich auf null eingegrenzt.

Gut, fortpflanzen darf man sich ja als Gläubige oder Gläubiger.
Sexualität hat verschiedene Dimensionen: Lust, Identität, Beziehung, auch Entspannung und Fortpflanzung. Die Reduktion allein auf Fortpflanzung, das ist einfach artfremd. Viele Menschen zerbrechen im System der katholischen Kirche genau an dieser Abspaltung von diesen menschlichen Bedürfnissen nach Zärtlichkeit und Sexualität. Diese Sexualmoral der Kirche, die alles als Sünde bezeichnet, was außerhalb der Fortpflanzung ist, das hat überhaupt nichts mehr mit existenziellen Fragen zu tun, mit denen sich eine Religion befasst oder befassen sollte.

Und die wären?
Was passiert nach dem Tod? Wie geht es weiter? Fragen halt zu Leben und Tod. Weiter gehört doch zu den Aufgaben einer Kirche, Menschen zu begleiten, die einen Verlust erlitten haben, die Trost brauchen. Wenn es einen Gott gibt, dann ist das nicht so ein Kleingeist, der sich für die Schlafzimmer der Menschen interessiert.

Apropos Gott: Sie sind Agnostikerin. Was machen Sie im Dienst der katholischen Kirche?
Ich stehe fürs Thema Prävention, ich bin gegenüber der Sache und Opfer loyal und nicht gegenüber der Organisation. Dass in dieser Funktion jemand ist mit einer völligen Unabhängigkeit in ihrer Denkweise, im Mindsetting, das ist wichtig. Ich sehe es als sinnvoll an, in die Prävention von Machtmissbrauch zu investieren. Dies geht nicht ohne Rütteln an der Sexualmoral, sonst ist Prävention eine Farce.

Wenn es um sexualisierte Gewalt innerhalb der katholischen Kirche geht, reden wir also nicht nur von Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen?
Nein. Auch das eigene Personal erfährt Grenzverletzung und einen massiven Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung. Durch die rigide Sexualmoral wird es einer Zerreißprobe ausgesetzt – und die Kirche nimmt das in Kauf. Viele Priester, Nonnen, Bischöfe werden krank. Denn das sexuelle Bedürfnis ist nicht so einfach zu sublimieren. Und das einzige interne Hilfsangebot dazu ist: Beichte. Aber diese kann die Bevormundung und den Schulddruck erhöhen. Im Übrigen: Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist in der Menschenrechtskonvention verankert.

Nun, die Nonne, der Zärtlichkeiten fehlten, hielt sich ans Gelübde der Keuschheit. Andere in kirchlichen Kreisen nicht. Wie viele wohl nicht?
Gerade zu einem Thema, das so viele Lügengebäude und Vertuschungen produziert, gibt es keine verlässlichen Werte. Aber es gibt ein paar Studien: Man geht davon aus, dass der größere Teil – also mehr als fünfzig Prozent der zölibatär lebenden Menschen – eine Art Doppelleben führt, sich also nicht ans Gelübde hält.

Und die Kirche weiß davon …
Und kultiviert damit eine Art Heuchelei, eine Inszenierung. Sie institutionalisiert Lügengebäude. Das ist das große Problem. Denn es ist nicht gesund, wenn man verstecken und verheimlichen muss. Es schafft persönliches Leid. Nicht zu lügen, ist ja auch ein christlicher Wert. Außerdem gibt es heimliche Geliebte oder Kinder, die negiert werden müssen. Ein weiterer Kreis also, der betroffen ist und leidet. Zudem schafft es auch Vertuschung rund um sexualisierte Gewalt. Ist ja klar: Wenn irgendwo jeder oder viele etwas zu verbergen haben, dann wird man auch nicht offenlegen, wenn man etwas Missbräuchliches hört. Man könnte ja selbst plötzlich im Fokus stehen. Kurzum: Innerhalb der Kirche decken sich die Leute gegenseitig.

Letzten Oktober bezeichnete der Papst die Pornografie als «Eintrittstor des Teufels».
Im 21. Jahrhundert noch mit dem Teufel zu argumentieren, das geht gar nicht! Das verängstigt Menschen. Es geht in Richtung spirituelle Manipulation.

Wen verängstigt das?
Wir mögen in der Schweiz differenzierter mit dieser Aussage umgehen können. Aber Menschen in anderen Ländern der Welt macht das wirklich Angst. Und der Papst spricht für alle Länder, auch für solche, wo es noch Teufelsaustreibungen und Hetzjagden gibt. Er hat also eine Verantwortung.

Sie haben spirituelle Manipulation genannt, wie sieht die aus?
Die Kopplung von Spiritualität und Macht ist höchst problematisch. Das eröffnet sehr viel Raum für Manipulation. Andere unterdrücken, sie ausnützen im Namen von Gott, das ist spiritueller Missbrauch. Etwa wenn jemand mit Worten wie «Gott will es so» argumentiert, um seine eigenen Zwecke und Ziele zu erreichen. Etwa um sich selbst zu legitimieren, damit ein anderer zur Verfügung stehen muss für sexuelle Dienste. Die Kopplung von Spiritualität und Macht ist in der DNA der katholischen Kirche. Sie hat also eine große Anlage, spirituelle Manipulation zu begehen. Da bräuchte es viel Selbstreflexion.

Ich sehe da diese Wahnsinnshierarchie und zuoberst diese Herren über 60 im Vatikan. Selbstreflexion?
Die Kirche ist vielfältig – es gibt beachtliches Potenzial für Selbstreflexion an der Basis. Aber ja, tatsächlich, wenn man nur die Bilder der Bischöfe vom Vatikan sieht, denkt man: Was ist das für eine eigenartige Truppe? Viele Menschen in der Kirche haben wohl schon eine Art «deformation spirituelle» erlebt.

Zu Kindesmissbrauch: Trügt der Anschein oder kommt er in der Kirche häufiger vor als anderswo?
In einer Studie 2011 berechnete man, wie groß der Anteil der Kleriker in der Gesamtbevölkerung ist: weniger als ein Prozent. Und dann schaute man, wie hoch der Anteil der Kleriker unter den Sexualstraftätern ist: acht Prozent. Im Vergleich ist die Anzahl der Sexualstraftäter aus kirchlichen Kreisen deutlich höher. Wir reden dabei nur von Fällen, die bekannt sind, nicht von der Dunkelziffer.

Solange dieses Machtgefälle innerhalb der Kirche existiert, wird sich das nicht ändern. Sie sagen: Doch, es ist möglich, indem man einen Verhaltenskodex einführt. Was ist das?
Es ist ein Instrument für Führungspersonal und Angestellte der katholischen Kirche, eine Art Handbuch. Gemeinsam mit Priester Stefan Loppacher haben wir ihn als Präventionsbeauftragte erarbeitet. Mit dem Verhaltenskodex wollen wir Macht thematisieren und reflektieren sowie kritisierbar machen. Indem Bischöfe, Generalvikare, Seelsorgerinnen, Pfarrer oder Religionslehrpersonen den Kodex unterschreiben, können wir von ihnen Kompetenzen einfordern.

Welche Themen werden aufgegriffen?
Etwa wie man spirituelle Manipulation verhindern kann. Wie man Menschen nicht verängstigt und beschämt. Im Verhaltenskodex finden sich ganz konkrete Beispiele fürs Kirchenpersonal im Umgang mit den Gläubigen.

Also auch der Umgang mit der Sexualität?
Ja, dort sind mehrere Punkte aufgelistet, die kirchliche Mitarbeitende beachten sollen. Unter anderem sollen sie die Sexualität als integralen Bestandteil des Menschseins anerkennen. Ebenso die sexuellen Rechte als Menschenrechte anerkennen, insbesondere das Recht auf sexuelle Selbstbestimmtheit. Jegliche Form von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und Identität sollen sie unterlassen. Und ein weiterer Punkt: Es wird kein Mensch zum Thema Sexualität ausgefragt. Das macht man beim Arbeitsplatz ja auch nicht.

Wo in der Schweiz wurde der Verhaltenskodex unterschrieben?
Im Bistum Chur. Und soeben hat man im deutschsprachigen Teil des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg einen Verhaltenskodex implementiert, der auf der Grundlage des von Chur erarbeitet wurde. In einem nächsten Schritt soll der Kodex auch auf Französisch übersetzt und adaptiert werden. Und in einem anderen Bistum der Schweiz ist er im Gespräch. Klar, im fundamentalistischen Lager der Kirche gibt es Widerstand gegenüber einem solchen Kodex, vor allem wenn es um die Punkte der Sexualität geht.

Schutzkonzepte gibt es bereits – genügen die nicht?
Sie sind zu wenig konkret. Prävention muss im Alltag sichtbar sein. Wenn es zu abstrakt bleibt, mit Sätzen in der Prävention wie «Wir wahren die Integrität», nicken das zwar alle ab, aber das schützt nicht.

Wagen wir einen Blick nach vorne: Die Kirche von morgen und Sexualität. Was sehen Sie da?
Die Kirche soll sich aus der Sexualmoral heraushalten. Es ist kein Kernthema der Kirche. Sie hat andere Kernkompetenzen, spirituelle. Sexualität ist kein spirituelles Thema, es ist ein zutiefst menschliches – im Hier und Jetzt. Mit Sexualität sollen sich die Sexologen, Psychologinnen und Mediziner auseinandersetzen. ♦

 

Teil 1 können Sie hier lesen: «Spaniens Kirche und seine Kadaver»


Dieses Interview erschien erstmals im Magazin frei denken.

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