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Femme géniale #8

Vandana Shiva: der Albtraum der Großkonzerne

Die indische Wissenschaftlerin und Aktivistin Vandana Shiva ist zur Ikone des Kampfs gegen Gentechnologie und Saatgut-Patente geworden. Begonnen hat ihr Engagement als Tochter eines Försters und Waldschützers im Himalaya.

Foto: aus der Doku «The Seeds of Vandana Shiva»

Wenn Vandana Shiva über das weltweite Ernährungssystem, die Machtgier von Konzernen und die Leidensgeschichten der lokalen Bauern spricht, sprüht sie nur so. Vor Entrüstung, vor Begeisterung und vor Kampfgeist. «Die industrielle Landwirtschaft ist die zerstörerischste Kraft auf der Welt. Sowohl wegen ihrer Auswirkungen auf die Erde als auch wegen ihrer Auswirkungen auf die Gesellschaft. So hat die sogenannte ‹Grüne Revolution› in Indien die Biodiversität zerstört und durch Monokulturen ersetzt, die zehn Mal mehr Wasser verbrauchen und einen viel tieferen Nährwert haben», sagt sie und lächelt süffisant, wie sie es so oft tut, wenn sie über die Ungeheuerlichkeiten der Nahrungsmittelproduktion spricht.

Die Grüne Revolution, von der sie im Dokumentarfilm «The Seeds of Vandana Shiva» spricht, war ein großangelegtes Programm der 60er Jahre, das eigentlich einen Beitrag zur Ernährungssicherheit in Indien leisten sollte. Doch hauptsächlich bestand es im Aufbau von Monokulturen mit genverändertem Saatgut, die den extensiven Einsatz von Pestiziden erforderte. Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die vorher ökologisch angebaut hatten, wurde das Land weggenommen. Oder sie wurden davon überzeugt, in die Gentech-Produktion einzusteigen – was sie von den Großkonzernen abhängig machte, die ihnen das Saatgut und die dazugehörigen Chemikalien verkauften, und viele in die Verschuldung trieben.

Die Wissenschaft ist ein patriarchalisches Projekt mit einer sehr eingeschränkten Sichtweise.

Die Saatgut-Diktatur ist eins von Shivas Lieblingsthemen. Der Knackpunkt, an dem angesetzt werden muss: «Wer Nahrungsmittel kontrolliert, kontrolliert die Gesellschaft. Aber wer Saatgut kontrolliert, kontrolliert das Leben auf der Erde», bringt Shiva die Bedeutung der kleinen Samen auf den Punkt, aus denen Leben sprießt. Denn genauso wie das Wasser stellt das Saatgut eine unersetzliche Lebensgrundlage dar, um die mit harten Bandagen gekämpft wird. Es ist ein Krieg – «ein Krieg gegen die Erde. Und er beginnt in den Köpfen der Menschen. Besser gesagt: der Männer. Vor allem Männer, die die Kontrolle über Macht und Geld haben.»

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1952 im nordindischen Uttarakhand geboren, besuchte Shiva die Schule in einem Konvent, in dem man der Meinung war, dass ein wissenschaftliches Studium nicht der richtige Weg für junge Frauen sei. Doch Shiva wollte unbedingt Physik studieren – was sie dann auch tat. Ihr Vorbild war Albert Einstein. Nach ihrem Abschluss begann sie eine Ausbildung als Kerntechnikerin an einem Atomforschungszentrum in Bombay, doch anfangs der 70er Jahre war kaum etwas über die Gefahren der radioaktiven Technologie bekannt. Shivas Schwester, eine Ärztin, machte sie darauf aufmerksam, und Shiva war schockiert.

«Das wird einem an den Universitäten und in den Instituten nicht beigebracht», erinnert sie sich. «Man zeigte uns, wie die Natur modifiziert werden kann, doch es wurde nicht darüber gesprochen, welche Auswirkungen diese Modifizierungen auf die Welt hatten. In der Wissenschaft wird immer nur eine Seite der Medaille aufgezeigt.» Enttäuscht wandte sich Shiva von der Physik ab und hegte insgesamt Zweifel an der Wissenschaft, die sie als «patriarchalisches Projekt mit einer sehr eingeschränkten Sichtweise» bezeichnete – bis sie schließlich auf die Quantentheorie stieß und sich einen Zweitstudium widmete. 1976 erwarb sie einen Master-Abschluss in Wissenschaftsphilosophie, und auch ihre anschließende Doktorarbeit zur Quantenmechanik schrieb sie an der Philosophischen Fakultät.

«Der Wald war unser Klassenzimmer»

Bereits während ihres Studiums engagierte sich Shiva in Umweltbewegungen, unter anderem gegen die Abholzung in ihrer Heimatregion. Und zwar nicht aus reinem Idealismus, sondern weil sie die Auswirkungen der Umweltzerstörung von der eigenen Haustür miterlebte: Als sie sah, wie Flüsse und Wasserstellen in ihrem Lieblingswald in Folge der Abholzung austrockneten, beschloss sie, sich von einer rein akademischen Laufbahn abzuwenden und ihr Leben dem Engagement für Umwelt, traditionelle Landwirtschaft und Frauenrechte zu widmen. Sie schloss sich der Chipko-Bewegung an, die sich auf ungewöhnliche Weise gegen Entwaldung und Holzhandel einsetzte: Die Frauen, denen durch das Verschwinden der Wälder die Lebensgrundlage entzogen wurde, umarmten die Bäume, um zu verhindern, dass sie gefällt wurden.

Mut und kritischen Geist hatte Shiva bereits von ihren Eltern gelernt: Beide waren Teil der indischen Unabhängigkeitsbewegung gewesen, und ihre Mutter eine dezidierte Feministin und eine Anhängerin von Gandhi. Die Familie war wohlhabend und gehörte der obersten indischen Kaste an, legte sich während ihres Engagements in der indischen Unabhängigkeitsbewegung aber den kastenneutralen Namen Shiva zu. Der Vater, Förster und Waldhüter, nahm die Familie mit auf mehrtätige Wanderungen und Ausritte durch die Ausläufer des Himalaya-Gebirges, was bei Shiva einen bleibenden Eindruck hinterließ und den Grundstein für ihre Wertschätzung der Natur legte. «Der Wald war unser Klassenzimmer», sagt Shiva. «Vater erklärte mir und meinen Geschwistern alles über die Pflanzen und wofür sie verwendet werden.»

Wir wollen das Wissen derer in den Vordergrund stellen, die das Leben verteidigen.

1987 rief Shiva die Organisation Navdanya ins Leben, die in den letzten drei Jahrzehnten weltweit von sich reden machte. Das Ziel der Bewegung besteht nicht nur darin, die Artenvielfalt zu schützen, sondern auch Bäuerinnen und Bauern bei der Umsetzung von ökologische Anbaumethoden zu unterstützen. Navdanya umfasst eine von Frauen geführte Bio-Farm, eine Schule und ein Kollektiv, das mehr als 70’000 Bäuerinnen und Bauern vereinigt. Unter anderem werden Saatgut-Datenbanke betrieben – inzwischen über hundert –, die die regionale Biodiversität erhalten und die Produzenten gleichzeitig mit Saatgut versorgen.

In Shivas Elternhaus entstand ein Forschungsinstitut, das sie «Institut for Counter Expertise» (Institut für Gegen-Expertisen) nannte. Um Gegengewicht zu den Expertisen derjenigen zu geben, denen es nicht wirklich um die Ernährung der Bevölkerung ging, sondern um Macht und Geld. «Dagegen wollten wir das Wissen derer in den Vordergrund stellen, die das Leben verteidigen. Freie Landwirte mit eigenem Saatgut sind die größte Kraft im Kampf gegen das Saatgutmonopol.»

So bietet Shiva auch Agrarmultis wie dem internationalen Großkonzern Bayer-Monsanto die Stirn. In einem Fall hat sie – gemeinsam mit der Schweizer Organisation Public Eye – neun Jahre lang dagegen gekämpft, dass das Unternehmen ein Patent auf Melonen-Saatgut bekommt. Bis sie 2021 vom europäischen Parlament Recht bekommen hat.

Doch Vandana Shiva ist nicht nur deshalb eine beeindruckende Frau, weil sie unermüdlich aktiv ist. Sie schafft es, gleichzeitig auf mehreren Ebenen tätig zu sein: Die mehr als 20 Bücher, die sie veröffentlicht hat, bilden eine empirisch-wissenschaftliche Grundlage für ihr Engagement gegen ein System, das immense soziale und gesundheitliche Schäden anrichtet. «Ob ich an einem Kongress in Kopenhagen spreche oder auf unseren Feldern einen einzigen Samen rette, hat für mich die gleiche Reichweite», sagt sie. Dabei sind vor allem die Kenntnisse der lokalen Bäuerinnen und Bauern zentral, die Shiva stets hoch geschätzt hat. Wenn sie nicht unterwegs ist, lebt sie nach wie vor auf dem Bauernhof ihrer Familie.

Frauen wie Shiva mögen der Albtraum der patriarchal geprägten Wirtschaftswelt sein, und in der Tat hat sie viele Feinde – in den Konzernleitungen genauso wie in der Politik. Wie alle, die ein ungerechtes System kritisieren, ist die 70-Jährige immer wieder mit Diffamationen und Drohungen konfrontiert. Dennoch hat sie unzählige Preise und Auszeichnungen erhalten, unter anderem den Alternativen Nobelpreis, den Global 500 Award der UNO und die Auszeichnung als «Hero for the Green Century» des Time-Magazins. Acht Universitäten in verschiedenen Ländern haben ihr die Ehrendoktorwürde verliehen. ♦


Soeben auf Deutsch erschienen: «Agrarökologie und echte regenerative Landwirtschaft» von Vandana Shiva. Neue Erde Verlag 2023, ISBN 978-3-89060-842-6. Mehr Infos hier.

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