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das Interview

Wann dürfen wir auf einen laizistischen Staat hoffen?

2023 ist ein festliches Jahr: Vor 175 Jahren wurde die moderne Schweiz gegründet. «Und damit der Staat mit dem progressivsten Wahlrecht europaweit», sagt Claude Longchamp, Historiker und ehemaliger Polit-Experte des Schweizer Fernsehens. Mit der Bundesverfassung 1848 blieb die Schweiz aber christlich.

Foto: Barbora Neversil

Man blickt zurück in die Zeit, in der sich der Weg zu unserer Demokratie ebnete, und alles drehte sich um Religionen.
Claude Longchamp: Ja, im 19. Jahrhundert ist die katholische Kirche nach wie vor der Meinung, wie ja zum Teil heute noch, dass sie über der Politik, über dem Staat steht. Weswegen man damals die katholischen Kantone vorwurfsvoll gerne als ultramontan bezeichnete. Was soviel heißt wie: von jenseits der Berge, also von Rom aus geführt. Staat und Kirche waren dasselbe. Die reformierte Kirche dagegen hatte schon vorher, mit der Reformation, die Oberhoheit des Staates über die Kirche eingeführt. Bereits ab den 1830er Jahren organisierte sie sich in den reformierten Kantonen kommunal, an der Basis. In diesen Einwohner- und Kirchgemeinden entstanden die frühen demokratischen Strukturen der Schweiz, nämlich die Gemeindeversammlungen. Eine laizistische Vorstellung zum Verhältnis von Kirche und Staat, dies propagierte erstmals der Staat Frankreich mit der Französischen Revolution 1789.

Fliegen wir zurück ins Jahr 1789! Ich stelle mir vor: Wir in der Schweiz in religiösen Verstrickungen und Konflikten – und konservativ. Die da drüben, in Frankreich, am Rebellieren, revolutionär.
In Frankreich wird gegen einen König rebelliert, der den Staat mit seinen immensen Ausgaben immer wieder in den Bankrott geritten hat. Es gibt ja Theorien, die sagen, dass die Franzosen ohne diese Staatsbankrotte nicht revolutionär gewesen wären. Das ist sicher der wichtigste Unterschied: Wir hatten kein Königtum, lediglich lokale Aristokratien.

Und wirtschaftlich?
Wir waren arm. Nun, die Schweizer Oberschichten, die waren reich, egal ob reformiert oder katholisch. Und zwar, weil sie Jahre lang vom französischen Staat profitiert hatten, indem sie Söldner stellten, etwa für die Garde des Königs. Kurzum: Der französische Königshof war in der Schweiz der größte und wichtigste Auftraggeber, das galt für die Katholiken in Luzern wie auch für die Reformierten in Bern.

Aber die Leute, die waren arm?
Die bäuerliche Bevölkerung war meist arm. Denn in vielen Gebieten konnte nur einer der Söhne das Gut übernehmen. Die anderen mussten – eben – in den Solddienst. Das war vor der Industrialisierung nebst der Landwirtschaft die wichtigste Erwerbsquelle. Wir waren also wirtschaftlich abhängig vom Königshaus, um den zweiten Unterschied zu den rebellierenden Franzosen zu nennen. Und der dritte, wichtigste Unterschied ist: Der König von Frankreich baute eine zentralistische Regierung auf. Durch die konfessionelle Spaltung innerhalb der Schweiz im 16. Jahrhundert blieben wir dagegen sehr dezentral.

Jeder Kanton für sich. Und Eigenbrötler?
Ja, und außerdem untereinander Rivalen. André Holenstein, Geschichtsprofessor für Schweizer Geschichte, sagt: «Die Schweiz existiert vor 1798 nicht.» Das sei ein Sammelsurium von 13 Rivalen gewesen, die ein paar gemeinsame Interessen hatten, unendlich viel Krach untereinander, konfessionell gespalten, jeder ein eigenes Unternehmen. Holenstein redet von einem Corpus Helveticum. Will heißen: Es gibt nur einen Staatenbund, aber keine wirkliche Gemeinschaft. Und jetzt kommen die Franzosen in die Schweiz, neun Jahre nach ihrer eigenen Revolution.

Bevor die Franzosen kamen, war in der Schweiz bereits ein revolutionärer Funken entzündet?
Vor allem in den Städten, ausgehend von Basel, gab es aufgeklärte Eliten mit intellektuellen Beziehungen zu Frankreich. Etwa mit Jean-Jacques Rousseau, letztendlich ein Genfer. Der Philosoph und Pädagoge wurde ja in Genf geboren. Daneben gab es auch Schweizer Händlerfamilien, die in den europäischen Handel oder sogar in den Welthandel eingebunden waren. Eine ganz große Rolle spielten die Händler der Indienne-Druckereien. Sie bedruckten Stoffe in allen Farben. Das sah ein bisschen Hippie-artig aus. Die Leute in der Schweiz trugen das gerne. Gegenüber der eintönigen bäuerlichen Kleidung entstand also diese neue schicke Art sich zu kleiden und sich auszudrücken. Das wurde jedoch von den Zünften in Bern verboten.

Welche Rolle spielten diese Händler während der Revolution?
Noch bevor die Franzosen kamen, verbanden sich die diskriminierten Indienne-Drucker mit einem Teil der Intellektuellen. Unter anderem mit dem Schulgründer Johann Heinrich Pestalozzi, dem Ehrenbürger des revolutionären Frankreichs. Gemeinsam fanden sie: Man müsse unbedingt das Bildungswesen verändern, Schulen für einen zukünftigen Staat gründen. In der Schweiz bildete sich also eine kritische Masse. Als die Franzosen mit ihrer Armee eintrafen, konnten sie sich mindestens kulturell, ökonomisch und politisch auf einen Teil der Schweizer Gesellschaft stützen.

Nun, die Helvetische Republik wird 1798 ausgerufen. Und dann?
Die Ideen der Aufklärung waren schlagartig in der gesamten Schweiz da. Ideen wie Menschenrechte, ein an Gesetze gebundener Staat, ein vom Volk gewähltes Parlament, und der letzte Punkt, ganz wichtig: unabhängige Gerichte. All dies, zuvor noch nie da gewesen!

Und die Religionen?
Ah, das war vielleicht die revolutionärste Idee: Die Franzosen brachten den laizistischen Staat in die Schweiz.

Das einzige Mal, dass in der Schweiz ein laizistischer Staat existierte?
Zumindest in der Theorie. Die Revolutionäre kamen mit der Vorstellung, dass Kirche und Staat zwei verschiedene Funktionen in unserer Gesellschaft haben. Darum sollten sie vollständig voneinander getrennt werden. Die Franzosen waren nicht gegen den Katholizismus, auch nicht gegen das Christentum, aber sie waren gegen die Einheit dieser beiden Organisationen. Diese Idee des laizistischen Staates versuchten sie also den Schweizern beizubringen.

Wieso nur in der Theorie?
Hier kommen die Juden ins Spiel: Führt man einen laizistischen Staat ein, dürfte man die jüdische Bevölkerung nicht mehr diskriminieren, wie man es in der Schweiz jedoch seit eh und je tat. Als die Helvetische Republik 1802 anfängt zusammenzukrachen, gibt es eine Auflehnung gegen die laizistische Idee und gegen die Juden. Das Schweizer Parlament entschied schließlich, dass der christliche Staat belassen werden solle. Somit wurden die Juden und Jüdinnen weiterhin diskriminiert.

Ob wir ohne Franzosen jemals die erste stabile Demokratie in Europa geworden wären?
Im Jahr 1848 ging es um den Durchbruch in der Industrialisierung – damit verbunden um das Eisenbahnwesen. Bevor die Schweiz gegründet wurde, reichte von England ausgehend die Eisenbahn bereits bis Warschau, und bis Barcelona, hatte schon Frankreich vollständig durchzogen, war auch im Deutschen Kaiserreich wichtig, endete in Waldshut an der süddeutschen Grenze am Rhein. Und von Frankreich herkommend endete die Eisenbahn in Basel.

Und das Netz in der Schweiz?
Wir waren überaus stolz auf unsere «Spanisch-Brötli-Bahn», die zwischen Zürich und Baden fuhr und die wir 1847 eingeweiht hatten. Das war die erste Eisenbahn auf Schweizer Boden. Jedoch waren wir nicht ans europäische Schienennetz angeschlossen. Und jetzt hatten wir zu wenig Geld, um bis nach Basel oder Waldshut die Strecke auszubauen. Das heißt: Wir waren darauf angewiesen, dass ausländisches Geld in der Schweiz investiert wird.

Geld von wem?
Hauptsächlich von Großbritannien, das in Europa den ganzen Eisenbahnbau tätigte. Die Engländer investierten aber nur unter der Bedingung, dass in der Schweiz ein neu organisierter Staat existiert. 1848 ist Großbritannien für uns Schweizer das, was Frankreich 1798 war: der große Förderer. Dieses Mal aus Gründen der Industrialisierung. Nun waren wir aber nicht mehr ein Sammelsurium von 13, sondern von 22 Kantonen. Daraus sollte jetzt ein moderner, einheitlicher Staat gebildet werden. Was im Vergleich zu 1798 zudem neu war: Seit den 1830er Jahren existierten in einigen Kantonen laizistische Universitäten, die von Liberalen gegründet worden waren.

In welchen Kantonen?
In Zürich seit 1833, in Bern seit 1834. Das war der Laizismus in der Schweiz! Zu der Zeit kam außerdem die Idee einer Nationaluniversität auf. Eine, die Ingenieure ausbildet, die für die wirtschaftliche Entwicklung nötig sein werden. Gegen diese Idee stellten sich die oberreaktionären, elitären Jesuiten, die das Bildungswesen in der Schweiz mit ihren Schulen stark bestimmten. In Luzern lehnten sich die Jesuiten auch gegen die Gründung des Bundesstaates auf. Ein Grund, warum es 1847 in der Schweiz zum Bürgerkrieg kam. Am Ende des sogenannten Sonderbundskrieges gewannen die Liberalen und Radikalen gegen die Konservativen, die vor allem in den katholischen Kantonen beheimatet waren. Nun: Der Bundesstaat wurde gegründet und die wirtschaftliche Entwicklung eingeleitet.

Wie sah sie aus?
Das erste Projekt des Bundesstaates war die Einführung des Schweizer Frankens. Das zweite die Abschaffung der kantonalen Zölle, das dritte der Aufbau einer schweizerischen Post und das vierte Projekt die Einführung der Eisenbahn.

Um festzuhalten, Zürich und Bern waren städtische Universitäten?
Genau. Und jetzt versuchte man nach der Staatsgründung erneut, eine große nationale Universität zu realisieren. Das scheiterte wiederum, weil man 1848 die Kompetenz über das Bildungswesen schlussendlich den Kantonen überließ.

Und dann?
Man baute keine nationale Universität, sondern gründete das sogenannte Polytechnikum, heute als Eidgenössische Technische Hochschule – die ETH – bekannt. Sie galt politisch nicht als universitär, damit waren die nicht-vorhandenen Bundeskompetenzen umgangen. So, wir hatten jetzt einen Einheitsmarkt und eine Hochschule. Aber ein weiteres großes Projekt konkretisierte sich nicht: die Gesellschaft zu revolutionieren. Selbst 1848 bezeichnete sich der Schweizer Staat immer noch als einen christlichen Staat, diskriminierte damit alle anderen Konfessionen weiterhin. Bis man zum säkularen Staat übergeht, wird es noch rund 25 Jahre dauern – bis zur Totalrevision der Bundesverfassung.

Der Text der ersten Bundesverfassung wurde im Frühjahr 1848 verfasst. Den Großmächten Frankreich, Österreich und Preußen gefiel das überhaupt nicht. Sie drohten anzugreifen.
Nur dank der Tatsache, dass im Februar 1848 zuerst in Italien, nachher in Frankreich, Bayern, Wien, dann in Budapest, in Berlin, überall in Europa Revolutionen ausbrachen, ließ man uns in der Schweiz machen. Die Großmächte wurden überrollt, die Monarchien weggefegt. Bevor sie überhaupt reagieren konnten, hatten wir in nur 51 Tagen die Verfassung geschrieben. Am 12. September 1848 wurde die Bundesverfassung in Kraft gesetzt, am 16. November 1848 hatten wir eine Regierung.

Ein paar Punkte der Bundesverfassung?
Es gilt neu das Männerwahlrecht. Zu Zeiten der Revolution hatte Napoleon ein Wahlrecht eingeführt, das an Besitz und Einkommen gebunden war. Dieses Zensuswahlrecht herrschte bei uns seit der Mediationsverfassung von 1803 vor: Nur wer Geld besitzt oder verdient, darf wählen. Das Revolutionäre im Jahr 1848 war also, dass das Wahlrecht nicht mehr ans Geld gebunden war. Gewisse Einschränkungen gab es dennoch: Man durfte nicht gegen das Gesetz verstoßen haben oder «armengenössig» sein, sprich, nicht von staatlichen Beiträgen abhängig sein. Das führte dazu, dass immer noch etwa 15 Prozent der Männer vom Wahlrecht ausgeschlossen waren, und die Frauen sowieso. Aber dennoch, es war ein riesiger Fortschritt.

Für die Schweiz. Oder auch europaweit betrachtet?
Oh ja, unser Wahlrecht war das progressivste und demokratischste. In Europa hatten sonst alle anderen Länder das Zensuswahlrecht. Selbst in der Industrienation Großbritannien konnten nur rund drei Prozent der Männer wählen.

Und was passierte 1848 mit den Religionen?
Wie gesagt, blieb die Schweiz vorerst ein christlicher Staat, die Juden wurden weiterhin diskriminiert. Bedeutet: Lediglich zwei Konfessionen wurden akzeptiert, die reformierte und die katholische, und diese waren in Form von Landeskirchen in den Kantonen organisiert. Was neu war: Es wurde die Religionsfreiheit eingeführt. Niemand mehr durfte gezwungen werden, einer bestimmten Konfession anzugehören. Vorher war es so: Wer in Bern lebte, musste reformiert sein, in Luzern katholisch. Weiter wurden 1848 die Jesuiten verboten und deren Bildungszentren geschlossen.

Wann wurden Staat und Religion schließlich getrennt?
Nun … mit der ETH hatte man vorgelebt, dass ein säkularer Staat innerhalb des Staates möglich ist, auf Bundesebene. Auf Kantonsebene dagegen blieb es ein Problem. Bis man in der Schweiz 1874 endlich einen säkularen Staat verkünden konnte, kam es noch einmal zu erbitterten Auseinandersetzungen: zwischen den Konfessionen, der katholischen Kirche, dem Bundesstaat. Genannt Kulturkampf, er dauerte rund vier Jahre.

Wann dürfen wir auf einen laizistischen Staat hoffen, wo dann auch alle religiösen Symbole aus öffentlichen Einrichtungen wie Schulen und Gerichten weg müssen?
So schnell wird er in der Schweiz nicht kommen. Kirchen und Kantone sind nach wie vor verquickt. Allerdings: Bald schon könnten die Konfessionslosen die größte Bevölkerungsgruppe in der Schweiz sein. Machen sie dann mal fünfzig Prozent der Bevölkerung aus, muss wohl alles nochmals neu organisiert werden. Im Übrigen: Der konfessionell-religiöse Hintergrund der Bundesverfassung von 1848 drückt sich bis heute in ihrer Präambel aus. Sie beginnt mit «Im Namen Gottes des Allmächtigen». 1999 wurde darüber abgestimmt, ob man das abschaffen will. Man kam zum Schluss: Nein.

Wir werden als Demokratie international hochgejubelt. Gibt es andere Länder, die gewisse Dinge demokratisch besser machen?
Wir galten bis ungefähr 1920 als die beste Demokratie weltweit. Heute befindet sich die Schweiz in diesen Ratings meist auf den Plätzen fünf bis zehn. Mittlerweile gilt Neuseeland als die beste Demokratie. Dieses Land führte als erstes das Wahl- und Stimmrecht ein.

Wieso sind wir nicht besser positioniert?
Punkt eins: Wir haben zwar eine ausgesprochen partizipative Kultur entwickelt mit Vernehmlassungsverfahren, Einsprachemöglichkeiten, kurzum, wir Bürger können uns einmischen. Aber wir haben eine Stimm- und Wahlbeteiligung, die demokratischen Grundsätzen widerspricht: Sie ist viel zu tief! Punkt zwei: Die Realisierung von Grundrechten ist in der Schweiz bis heute eingeschränkt.

Wie meinen Sie das?
Es gibt Minderheiten, denen werden Grundrechte immer noch vorenthalten. Aus internationaler Praxis ist unser Ausnahmeartikel mit dem Minarettverbot nicht akzeptabel. Wir haben eine Reihe solcher Grundrechte, die in nordischen Staaten besser umgesetzt sind. Deswegen gelten Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland als die besseren Demokratien. ♦

 

Dieses Interview erschien erstmals im Magazin frei denken.

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