Mensch. Gesellschaft. Meer.

Serie «Inklusion» Teil 3

Das neue Normal

Viele Menschen mit Handicap leben in einer Parallelgesellschaft, die gesellschaftlichen Strukturen sind so ausgelegt, dass sie auch vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden. Die Arbeitsvermittlung mitschaffe.ch will das ändern.

Interner Kurier beim Unternehmen Skan Allschwil, vermittelt von mitschaffe. Foto: Skan/mitschaffe.ch

Für Menschen mit Handicap ist es schwierig, einen Arbeitsplatz im so genannten ersten Arbeitsmarkt zu finden – das heisst, nicht in einer Spezialeinrichtung wie einer geschützten Werkstatt. Doch viele wünschen sich genau das: Teil des «normalen» Arbeitsmarkts zu sein und dadurch auch mehr Möglichkeiten bei der Jobwahl zu haben. Dies bekam der Schaffhauser Thomas Bräm, der 15 Jahre lang eine Institution für Menschen mit Handicap geleitet hatte, immer wieder zu hören. So gründete er 2013 mitschaffe.ch, eine Personalvermittlung für Menschen mit Handicap. Inzwischen arbeiten er und sein Team mit mehr als 100 Firmen in acht Kantonen zusammen, darunter KMUs, Grossfirmen und auch öffentliche Verwaltungen wie Gemeinden oder Kantone. Im Interview erklärt Thomas Bräm, warum Integration nicht gleich Inklusion ist, und warum sich die Zusammenarbeit mit Menschen mit Handicap für Unternehmen lohnt – sowohl sozial als auch betriebswirtschaftlich.

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Was bewegt Unternehmen dazu, Menschen mit Handicap einzustellen?
Thomas Bräm: Wenn wir auf Unternehmen zugehen, lautet unser Argument nicht: «Seid bitte so lieb und sozial, einen Menschen mit Handicap einzustellen.» Sondern: «Ihr verpasst etwas, wenn ihr es nicht tut.» Und zwar auf ganz verschiedenen Ebenen. Wir hören oft, dass es der Unternehmenskultur guttut, Menschen mit Handicap im Team zu haben. Zum Beispiel im zwischenmenschlichen Bereich. Was den Umgang untereinander betrifft, sind sie oft eine grosse Bereicherung. In meiner Generation wurde man ausschliesslich nach seiner Leistung definiert, doch heute beginnen auch andere Dinge zu zählen. Ich kann Ihnen sagen, eine Weihnachtsfeier mit behinderten Menschen ist viel schöner als durch die Bahnhofstrasse zu gehen, wo alle deprimiert und gestresst aussehen. Für Firmen lohnt sich das Ganze aber auch betriebswirtschaftlich. Beim aktuellen Fachkräftemangel macht es Sinn, dass spezialisierte Mitarbeitende sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren und dafür gewisse Aufgaben abgeben können. Wir haben mit einigen Firmen zusammen Jobprofile erarbeitet, bei denen verschiedene von diesen Einzeltätigkeiten zusammengefasst wurden und man so eine neue Position geschaffen hat, die auf die Fähigkeiten unserer Bewerber zugeschnitten war.

Begleiten Sie die Firmen und die Arbeitnehmenden auch nach der Vermittlung?
Ja, da fängt die Arbeit eigentlich erst richtig an. Bei jeder vermittelten Stelle gibt es einen Job-Coach, eine Art Götti oder Gotte. Eine typische Frage der Arbeitgebenden ist zum Beispiel, ob man kritisieren darf, wenn eine Arbeit nicht gut ausgeführt wird. Ich sage immer, man soll Menschen mit Handicap genau so behandeln wie alle anderen Mitarbeitenden. Deshalb finde ich auch, es braucht keine spezielle Ausbildung dafür. Die Behinderteninstitutionen sind der Meinung, dass sie nur von Profis betreut werden können, aber da denke ich anders. Tatsächlich äussern viele den Wunsch, ganz normal behandelt, nicht mehr in Watte gepackt zu werden. Dazu muss man aber auch sagen: Das Ende der Diskriminierung ist auch das Ende der Privilegierung. Das hören sie dann manchmal nicht so gern – doch es gehört zur Normalisierung dazu. Wenn Menschen mit Handicap in den normalen Arbeitsmarkt integriert werden wollen, müssen sie halt auch damit rechnen, dass der Chef sagt, hey, es geht nicht, dass du immer zu spät kommst.

Warum ist Inklusion so wichtig – nicht nur für die Betroffenen, sondern für die ganze Gesellschaft?
Früher sprach man von Integration. Doch dieser Begriff setzt voraus, dass man zuerst jemanden ausschliesst – in Sonderschulen, in Heimen –, um ihn dann wieder integrieren zu können. Inklusion dagegen würde aus meiner Sicht bedeuten, dass gar niemand mehr ausgeschlossen oder von der Gesellschaft separiert würde. Weder in Kitas und Schulen noch im Arbeits- oder Wohnungsmarkt. Es wäre einfach ein normales Miteinander, und es gäbe keinen ersten und zweiten Arbeitsmarkt mehr, keinen ersten und zweiten Wohnungsmarkt, und keine parallelen Schul- oder Ausbildungssysteme. Das können wir uns langfristig auch wirtschaftlich nicht mehr leisten. In der Zusammenführung dieser Parallelgesellschaften liegt ein riesiges Potenzial und ein grosser Mehrwert für alle.

Es gibt ja ganz verschiedene Arten von Handicaps, die Arbeitsinklusion ist sicher nicht für alle gleich einfach?
Unsere Hauptzielgruppe sind Menschen mit leichten geistigen Handicaps, zum Beispiel dem Downsyndrom. Wir haben aber auch viele lernbehinderte Jugendliche, die nur eine Anlehre gemacht haben und danach zwischen Stuhl und Bank fallen. Sie sollten eigentlich normal arbeiten gehen, sind aber etwas zu schwach für eine Anstellung mit «normalen» Aufgaben. Dann vermitteln wir auch Menschen mit Sinnesbehinderungen wie Blinde, Gehörlose oder Rollstuhlfahrer. Es gibt auch spezielle Fälle wie zum Beispiel einen Mann mit starkem Rheuma oder eine Frau, die in ihrer Lehre als Drogistin zwei Hirnschläge erlitten hat. Sie kann zwar normal arbeiten, aber nicht länger als vier Stunden. Sie hatte vor unserer Vermittlung jahrelang versucht, einen Teilzeitjob zu finden, doch dies hat nicht geklappt.

Was planen Sie für die Zukunft?
In den letzten Jahren ist mitschaffe.ch stets weitergewachsen. Angefangen hatten wir in Schaffhausen, aber inzwischen haben wir so genannte Satelliten in St. Gallen, Thurgau, Bern, Basel, Zürich, Solothurn und dem Wallis. In jedem Kanton haben wir einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin, die die Vermittlung und Betreuung vor Ort übernimmt. Da kommen natürlich immer mehr Menschen und Betriebe dazu. Doch eigentlich ist meine Zukunftsvision, dass es mitschaffe.ch irgendwann nicht mehr braucht. Das ist vielleicht ein bisschen ehrgeizig, aber ich hoffe schon, dass es irgendwann einfach normal wird, dass Menschen mit Handicap mitarbeiten – ohne dass es speziell erwähnt werden muss oder eine Quote braucht. In diesem Sinn leisten wir auch viel Sensibilisierungsarbeit, denn in jedem Betrieb, der jemanden über mitschaffe angestellt hat, normalisiert sich die Zusammenarbeit ein Stückweit. ♦

www.mitschaffe.ch


Dieser Text ist erstmals am 17. Dezember 2022 auf Tentakel erschienen.

 

Alle Teile der Serie «Inklusion» finden Sie hier.

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