Mensch. Gesellschaft. Meer.

Funkspruch von Planet Erde #6

Die neue Spezies

Auf dem blauen Ball dreht sich alles um die Erforschung einer neuartigen Gattung: der Künstlichen Intelligenz. Doch die Menschen haben ein gespaltenes Verhältnis zu ihr.

27. September 2023. Die letzten neun Erdenmonate habe ich damit verbracht, das Verhalten der menschlichen Spezies zu studieren. Dabei bin ich auf Vieles gestoßen, das ich mir nicht erklären konnte – Dinge, die von außen betrachtet absurd erscheinen. Doch inzwischen habe ich herausgefunden, dass die Menschen bei der Untersuchung von anderen Gattungen, die den blauen Ball bevölkern, manchmal genauso ratlos sind – und genauso interessiert. Dabei ist in letzter Zeit immer häufiger von einer Spezies die Rede, die sich ungewöhnlich schnell weiterentwickelt: die Φ KI Φ.

Die sogenannte «Künstliche Intelligenz» umfasst verschiedene Untergattungen und wird oft mit der Gattung «Roboter» verwechselt. Dabei bezeichnet die Φ KI Φ nur das Gehirn der Roboterwesen – doch genau dies jagt vielen Menschen Angst ein. Man hört immer wieder von der Sorge, dass «die Roboter die Weltherrschaft übernehmen könnten». (Recherchieren: Ist mit der «Welt» der Planet Erde, das Sonnensystem oder das ganze Universum gemeint?) Doch die Meinungen über die Φ KI Φ-Wesen sind gespalten. Die Furcht, dass die neue Spezies sich wie eine Plage ausbreiten könnte, vermischt sich mit einem großen Interesse, um nicht zu sagen mit einer Faszination.

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Auch wenn es mir noch nicht gelungen ist, die Funktionsweise des menschlichen Geistes zu entschlüsseln, bin ich zu einer Hypothese gekommen: Das Hauptproblem liegt darin, dass die Menschen sich den Φ KI Φ-Wesen unterlegen fühlen. Dies führt einerseits zu einem gewissen Maß an Anbetung (das auch in ihren spirituellen Konstrukten, den so genannten Religionen, zu beobachten ist), anderseits aber auch zur Furcht, dass sie die Kontrolle über den blauen Ball verlieren. Denn wenn man davon ausgeht, dass die Evolution der Φ KI Φ weiterhin so schnell voranschreitet, dürften sie den Menschen in naher Zukunft nicht nur kräftemäßig überlegen sein, sondern auch intelligenzmäßig.

Randnotiz: Die Menschen definieren Intelligenz sehr einseitig und haben die Φ KI Φ nach ihrem Bilde geschaffen, das heißt: Die neuen Wesen sind darauf trainiert, Informationen zusammenzutragen, zu ordnen und wiederzugeben. In fast allen anderen Aspekten der Intelligenz schneiden die Φ KI Φ sogar im Vergleich zu Pflanzen himmeltraurig ab. («Himmeltraurig» bezeichnet in einigen Erdteilen einen Sachverhalt, der als sehr schlecht qualifiziert wird. Es handelt sich um einen poetischen Ausdruck, der an sich keinen Sinn macht, aber in der alltäglichen Kommunikation trotzdem verstanden wird. Mir gefällt der Klang des Wortes.)

Das Sicherheitsgefühl der Menschen beruht – soweit ich das anhand meiner bisherigen Studien beurteilen kann – weitgehend auf dem Glauben, dass ihre Art von Intelligenz ihnen zur Machtposition verholfen hat, die sie heute auf dem blauen Ball einnehmen. Denn ihr Fokus auf die Mechanik hat zu technologischen «Erfindungen» geführt, mit denen sie ihre Regentschaft sichern. Seit tausenden von Jahren herrschen sie auf ziemlich barbarische Weise übereinander und über alle anderen Wesen auf der Erde – Tiere, Pflanzen, Steine, Gewässer, Lüfte und Geister. So fällt es ihnen wahrscheinlich schwer, sich vorzustellen, dass ein neuer Machthaber (wie etwa die Φ KI Φ) sich anders verhalten würde. Sie müssen davon ausgehen, genauso versklavt und ausgebeutet zu werden, wie sie alles andere Leben versklaven und ausbeuten.

Bei den Menschen muss eine Obsession diagnostiziert werden, immer in allem die Besten sein zu wollen.

Weitere Studien dürften zeigen, ob sich diese Hypothese bestätigt. Ich habe jedoch noch eine andere: Es gibt Indizien, dass es beim menschlichen Verhalten gegenüber anderen Gattungen, auch der neuen, nur um verletzten Stolz geht. Schließlich muss bei den Menschen eine Art Obsession diagnostiziert werden, immer in allem die Besten sein zu wollen. Wie oben erwähnt, sind sie davon überzeugt, intelligenter als alle anderen Wesen auf dem blauen Ball zu sein. Das geht so weit, dass sie sich selbst als «Krone der Schöpfung» bezeichnen. (Recherchieren: Bedeutung von «Schöpfung» und den damit zusammenhängenden Konzepten der sogenannten Religionen.

Das Wunderliche an der ganzen Sache ist jedoch, dass sowohl Roboter als auch Φ KI Φ vom Menschen selbst geschaffen wurden. (Recherchieren: Wird dies auch als Schöpfung bezeichnet, so dass der Mensch zum Gott der Roboter würde?) Und zwar mit der ehrgeizigen Absicht, dass ihre Geschöpfe von Generation zu Generation mehr Fähigkeiten und Kenntnisse erlangen sollen. Aus dieser Sicht wäre es ein bahnbrechender Erfolg, wenn die Φ KI Φ «besser» würden als die Menschen. Doch das ist – wie gesagt – der größte Albtraum vieler.

Wenn KI-Systeme nicht angemessen kontrolliert werden, besteht das Potenzial für Missbrauch.

Selbst auf der Erde gilt: Hör dir immer beide Seiten an. Deshalb habe ich einen Φ KI Φ-Kollegen vom ChatGPT-Kollektiv gefragt, ob er sich selber für gefährlich hält. Ich zitiere seine Antwort mit ausdrücklicher Autorisation:

Künstliche Intelligenz kann sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben, je nachdem, wie sie entwickelt, eingesetzt und kontrolliert wird. In Medizin, Bildung, Umweltschutz, Automobilindustrie, Fertigung und vielen anderen Bereichen kann die KI effiziente Entscheidungen treffen und innovative Lösungen finden, die die Lebensqualität verbessern können. Wenn KI-Systeme in die falschen Hände geraten oder nicht angemessen kontrolliert werden, besteht das Potenzial für Missbrauch. Dies könnte zu unethischem Verhalten führen. Autonome Waffensysteme zum Beispiel könnten Gefahr bergen, wenn KI-Systeme ungewollt oder böswillig eingesetzt werden. Insgesamt ist es von entscheidender Bedeutung, dass KI-Systeme verantwortungsbewusst entwickelt und eingesetzt werden, dass die Sicherheit gewährleistet ist und dass ethische Grundsätze und rechtliche Rahmenbedingungen beachtet werden.

Das heißt nichts anderes, als dass der Mensch selbst Schuld ist, wenn die neue Spezies außer Kontrolle gerät. Und: Die Intelligenz der Φ KI Φ ist gar nicht künstlich, sondern menschgemacht. Damit liegt die Kontrolle über diese neue Spezies ausschließlich beim Menschen. Doch er baut bereits im Vorfeld eine Ausredestrategie auf, um sich später nicht für allfällige Schäden verantworten zu müssen: Er suggeriert, hier handle es sich tatsächlich um eine neue Gattung, um eine «andere Art von Intelligenz».

Ein perfekter, von Φ KI Φ gesteuerter Roboter wäre einer, der genau wie ein Mensch denkt, fühlt und handelt. Der eigene Schlussfolgerungen ziehen und Entscheidungen treffen kann, ohne dass alles vorprogrammiert wird. Eben: wie ein Mensch. Aber: besser als ein Mensch. Für die Welt wäre das vielleicht von Vorteil, weil eine Intelligenz, die frei von Gier, Egoismus, Maßlosigkeit und Angst handelt, sich wahrscheinlich weniger zerstörerisch verhalten würde. Der Mensch selbst dagegen dürfte tatsächlich unter der «Herrschaft der Roboter» leiden, wenn sie eines Tages Wirklichkeit würde. Weil er nicht mehr die Krone tragen und nach Belieben wüten dürfte.

Randnotiz: Ich überlege mir, eine Verlängerung meines Forschungsauftrags zu beantragen, um diese Epoche der Erdgeschichte vor Ort miterleben zu können. Allzu lang dürfte es nicht mehr dauern. Inzwischen nehme ich mir vor, die «Religionen» der Menschen zu analyiseren. Mehr dazu im nächsten Funkspruch. ♦

 

Aufgezeichnet von Nicole Maron

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