Mensch. Gesellschaft. Meer.

Die Geschichte von Zerins Flucht #2

Der Schuldspruch von Äpfeln und Tomaten

Das kurdische Dorf, in dem Zerin aufgewachsen war, wurde durch das türkische Militär zerstört. Um die kurdische Guerilla zu besiegen, machte die Türkei weder vor der Zivilbevölkerung Halt noch vor Feldern oder Wäldern.

Foto: Bohdan Chreptak

Zu Teil 1

Nachdem Zerin im Asylzentrum das Bewusstsein verloren hatte, blieb sie noch einige Stunden liegen und hatte kaum die Kraft, sich zu bewegen. Ihr Bruder Azad, der schon ein paar Jahre vor ihr in die Schweiz gekommen war, setzte alle Hebel in Bewegung, dass sie und ihr Sohn Rohat schneller in ein kantonales Asylzentrum verlegt wurden. Nach zehn Tagen wurden sie nach Bern überwiesen. Bei der Entlassung drückte man ihnen ein Zugbillet und einen Fahrplan in die Hand sowie die Adresse des kantonalen Migrationsamtes und einen Stadtplan, auf dem dessen Lage eingezeichnet war.

Azad wusste, wie diese Papiere zu interpretieren waren, wie man zum Basler Bahnhof kam und den richtigen Zug fand, wo man aussteigen musste und wie man sich in einer fremden Stadt orientierte. Da er Deutsch gelernt hatte, konnten sie sich bis zum Amt durchfragen. Viele andere Asylsuchende, die in der Schweiz keine Verwandten hatten, mussten diesen Weg alleine bewältigen. Eine erste große Prüfung in ihrem neuen Leben: Ohne die Kenntnis einer Fremdsprache, manchmal auch ohne richtig Lesen und Schreiben zu können, wurden die Neuankömmlinge gleich auf einen Orientierungslauf durch die Schweiz geschickt. Ihr kleiner Bruder kam Zerin nun vor wie ein Held – was er alles wusste und konnte! Nur allzu gut erinnerte sie sich an die letzte große Reise, die sie zusammen angetreten hatten. Damals war Azad sich verloren vorgekommen – doch dies war lange her.

Die Stadt sah aus wie ein riesiger See aus Licht.

Sie wachte auf, als er sie aufgeregt anstieß. «Schwester, Schwester, was ist das?», rief er. «Woher kommt all das Licht?» Es dauerte einen Moment, bis sie sich erinnerte, wo sie waren. Unter sich spürte sie ein eigenartiges Ruckeln und Zuckeln. Ihre Augenlider waren schwer, und sie erinnerte sich unscharf daran, wie der Vater mit Hilfe der Nachbarn am Tag zuvor das ganze Haus ausgeräumt und alles auf einen großen Lastwagen geladen hatte. Sie war noch nie zuvor in einem Auto gefahren, und ihr Bauch fühlte sich seltsam weich an. Doch Azad hörte nicht auf, sie anzustoßen und mit einer ganz flachen Stimme zu fragen: «Schwester, was ist das?»

Als sie aus dem Fenster schaute, begriff sie, warum er so aus dem Häuschen war. Was da in einiger Entfernung auftauchte, sah aus wie ein riesiger See aus Licht. Er funkelte heller als der Sternenhimmel. Zerin schaute Azad mit großen Augen an, dann wanderte ihr Blick wieder zurück zu diesem unergründlichen Phänomen mit den tanzenden Lichtern, wie magisch angezogen von ihrer fremdartigen Schönheit. Die Stimme ihres Vaters drang wie von weither in ihr Bewusstsein, und es dauerte lange, bis sie verstand, was er sagte: «Das ist Silvan.»

Silvan war die Stadt, die sie sich oft vorgestellt, von der sie sich aber nie ein richtiges Bild hatte machen können. Aus Silvan kamen die Kaugummis und die Schuhe, die sie vom Vater bekommen hatte, es musste also ein Ort sein, an dem es ganz anders aussah als in ihrem Dorf. Aber es hatte ihr niemand gesagt, dass es dort in der Nacht leuchtete und blinkte, dass es in jedem Haus Lampen gab, die man einfach mit einem Knopfdruck entzünden konnte, ohne vorher Holz aufzuschichten und zu entfachen. Es hatte ihr niemand gesagt, dass die Häuser so dicht beieinanderstanden, dass man den Nachbarn durch die Fenster hindurch beim Essen zusehen konnte. Und dass zwischen den Häusern ein riesiges Gedränge herrschte, dass ständig Leute hin und herliefen und so laut miteinander sprachen, dass man weder das leise Streichen des Windes noch das Rufen der Tiere hören konnte. Zerin vermisste sie, vor allem wenn sie abends versuchte einzuschlafen. Durch das Dunkel des Zimmers hörte sie, dass es ihren Geschwistern nicht anders ging.

Insgeheim malte Zerin sich manchmal aus, dass sie eines Tages nach Araschka zurückkehren würden. Das war, bevor die Nachricht kam, dass ihr Dorf, genauso wie die Nachbardörfer, unbewohnbar geworden worden war. Bevor die Häuser zerstört und die Dorfbewohner vertrieben worden waren. Bevor Zerin begriff, dass sie ihr ihre Heimat genommen hatten.

•••

Ahmet war gerade auf dem Weg nach Hause gewesen, als sie kamen. Ein schneller, schreiender Trupp von Militärs, die ins Dorf eindrangen und selbst Frauen und kleine Kinder mit Waffen bedrohten, um sie aus den Häusern zu treiben. Sie ließen ihnen kaum Zeit, ein paar Kleider zusammenzupacken, und sobald sie sie vor die Tür gezerrt hatten, zündeten sie die Häuser an. Von einer Minute auf die andere war klar: In diesem Dorf gab es kein Bleiben mehr. Hilfe und Unterstützung der kurdischen Terroristen, hieß der Schuldspruch, der den Menschen ihre Existenzgrundlage nahm. Hilfe und Unterstützung der Terroristen, weil sich die Mitglieder der kurdischen Partei PKK in den gebirgigen Hügeln rund um Araschka aufhielten und in die Dörfer herunterkamen, um sich mit Nahrung zu versorgen.

Das war es, was auch Äpfel, Weizen und Tomaten zu Schuldigen machte: dass sie die Guerillakämpfer am Leben hielten. Die Schuld der Bäume lag darin, dass sie Sichtschutz boten und den kreisenden Militärhelikoptern nicht preisgaben, wo sich die Guerillatruppen aufhielten. Indem sie eine terroristische Organisation unterstützten, begingen auch sie Hochverrat, was ihr Todesurteil rechtfertigte: In den 80er und 90er Jahren wurden über 10 Millionen Hektar Nutzland und Wald zerstört und zehntausende von Schafen und Ziegen getötet.

Ahmet fand mit seiner Familie und dem, was er am Leib trug, Unterschlupf in einem Nachbardorf. Viele wanderten in die Städte aus, nach Diyarbakir oder sogar nach Istanbul – doch die damit verbundene Bevölkerungsdichte schuf neue Probleme, während die Grundmauern der alten Häuser im Dorf als einsame Mahnmale stehen blieben. Mehr als dreitausend Dörfer wurden evakuiert, zerstört oder verbrannt, und es sollte fast zwanzig Jahre dauern, bis die Menschen begannen, sie wieder aufzubauen. ♦

Fortsetzung folgt nächsten Montag, 17. April.


Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Buch «Mutter, hab keine Angst. Die Geschichte von Zerins Flucht» von Nicole Maron. Zehn und elf Verlag 2014. ISBN: 978-3-905769-37-1

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