Mensch. Gesellschaft. Meer.

Ein Moment!

«Als mich der Hügel rief»

Als Iñakapalla Chávez den Saywa-Hügel im Heiligen Tal der Inkas bestieg, stand sie vor der Herausforderung, ihren Weg zu finden. Nicht nur auf den Gipfel.

Foto: zvg

«Mein damaliger Partner versuchte immer, mich kleinzumachen. Alles, was ich gerne tat, verspottete er, zum Beispiel das Theaterspielen. Er unterstützte mich bei keiner meiner Leidenschaften. Ich war zwar dreißig, hatte gerade mein Masterstudium abgeschlossen und war eigentlich bereit, voll durchzustarten. Doch die Probleme in meiner Beziehung belasteten mich sehr. Ich war von psychischer und physischer Gewalt betroffen. Trotzdem zögerte ich lange, ob ich mich von ihm trennen sollte, denn wir hatten eine Tochter zusammen – der klassische Fall.

An jenem Tag hatte ich eine große Aufführung im Stadttheater von Cusco, der peruanischen Andenstadt, die zu Inka-Zeiten als «Nabel der Welt» bezeichnet wurde. Das Theater hatte schon damals eine wichtige Bedeutung in meinem Leben. Etwas zu erschaffen, was weit über die Probleme des Alltags hinausging, inspirierte mich. Doch anderseits machte es mir auch bewusst, wie gefangen ich war. In der Nacht nach der Aufführung schlief ich nicht gut und machte mir tausend Gedanken um meine Beziehung und darüber, was ich wollte im Leben. Denn eigentlich wusste ich ganz genau, was mich glücklich machte – und was nicht.

Am nächsten Morgen stand ich früh auf, und trotz meiner Erschöpfung beschloss ich, den Saywa-Hügel in Urubamba zu erklimmen. Ich weiß nicht, warum ich an diesem Tag das Gefühl hatte, diese Wanderung unternehmen zu müssen. Ich war nie zuvor auf diesem Hügel gewesen, der gut zwei Stunden von Cusco entfernt im Heiligen Tal der Inkas liegt. Doch ich wachte auf und wollte dorthin. Ich war zwar müde, aber trotzdem von einer knisternden Energie erfüllt. Als ob der Geist des Saywa mich rufen, ja herausfordern würde. In Peru glauben wir, dass jeder Hügel und Berg einen Schutzgeist hat – den Apu.

Je höher ich stieg, desto klarer wurden meine Gedanken.

Der Saywa ist nicht einfach zu besteigen, denn er ist sehr steil und es gibt keinen richtigen Weg. Das heißt, dass man sich seinen Pfad selbst suchen muss. Je länger ich unterwegs war, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass dies das eigentliche Ziel der Wanderung war: ganz körperlich zu erfahren, was es bedeutet, seinen Weg zu finden. Mit allen Mühen und Anstrengungen. Natürlich wollte ich zum Gipfel kommen, aber der Anstieg selbst war wie eine Katharsis. Das klingt jetzt sehr metaphorisch, aber es hat sich in diesem Moment wirklich so angefühlt.

Je höher ich stieg und je mehr mein Körper schmerzte, desto klarer wurden meine Gedanken. Es war wie eine Meditation – aber keine klassische, bei der man in der Lotusposition sitzt und schweigt. Nein. Durch das Gehen, indem ich immer einen Schritt vor den anderen setzte, erkannte ich vieles, das lange in mir geschlummert hatte. Zweifel und Sorgen, aber auch Kraft und Entschlossenheit. Wenn ich stark genug bin, diesen Hügel zu besteigen, dachte ich, kann ich auch Entscheidungen treffen, die mein Leben verändern.

Als ich oben ankam, sah ich, dass es hinter dem Hügel noch weitere Hügel gab, eine ganze Bergkette, und ich verspürte eine unbändige Lust, sie alle und die ganze Welt zu erkunden. Mir wurde bewusst, dass ich frei sein wollte, ohne jemanden, der mich zurückhielt. Oben auf dem Gipfel fasste ich den Beschluss, mich zu trennen und alles zu tun, wovon ich immer geträumt hatte. In Peru gibt es einen großen sozialen Druck und gewisse Erwartungen, wie das Leben auszusehen hat. Ich war noch nicht verheiratet, hatte keinen sicheren Job. Doch das Theater und die Literatur erfüllten mich, auch wenn diese Leidenschaften vielleicht kein festes monatliches Einkommen generieren würden. Viele Frauen hier haben Angst, ihr Ding durchzuziehen, doch das hat auch zur Folge, dass sie die beste und stärkste Seite an sich selbst nicht erkunden können. Ich möchte allen Frauen ans Herz legen, sich auf ihren Weg zu begeben – wie auch immer der aussieht.

Leider ist es auch heute noch oft so, dass Männer versuchen, die Macht über uns zu gewinnen. Der Vater meiner Tochter wollte, dass ich mich nur noch dem Haushalt widme und dadurch finanziell vollkommen von ihm abhängig werde. Dass ich heute, acht Jahre später, genau da bin, wo ich sein will, habe ich dem Saywa-Hügel zu verdanken und der Entscheidung, die ich dort getroffen habe. Ich unterrichte Sozialwissenschaften an der Universität von Cusco, arbeite in Theater- und Kinoproduktionen mit und organisiere Kunstausstellungen. Außerdem schreibe ich eine Kolumne in einer Lokalzeitung und bin an einer alternativen Schule tätig, die eine holistische Bildung vermittelt. Außerdem bin ich an einem Doktorat in Sozialwissenschaften. So viel auf einmal – ich frage mich manchmal auch, wie ich das schaffe. Ich weiß nur: Der Apu des Saywa inspiriert und motiviert mich, und ich kehre immer wieder dorthin zurück.» ♦

Aufgezeichnet von Nicole Maron

Dieser Text hat Ihnen gefallen?
Die Inhalte von Tentakel sind frei verfügbar. Vielen Dank, wenn Sie unsere Arbeit mit einem kleinen Beitrag unterstützen. Per Twint oder mit einem Klick auf den Button.

Jetzt Spenden