Mensch. Gesellschaft. Meer.

Funkspruch von Planet Erde #7

Ein wundersames Baby

Gonso versucht, die Spiritualität der Menschen zu ergründen. Doch ihm wird schwindlig von der Komplexität der Geschichten, die die Erdbewohner konstruiert haben, um das Unaussprechbare zu ergründen.

8. Dezember 2023. In meinem letzten Funkspruch habe ich mich mit dem Verhältnis von Mensch und Künstlicher Intelligenz auseinandergesetzt. Dabei bin ich auf ein Thema gestoßen, das mein Interesse geweckt hat: die Spiritualität der Erdbewohner. Der Moment für diese Recherche ist ideal, da zurzeit ein großes Fest ansteht, das fast überall auf dem blauen Planeten gefeiert wird: Weihnacht.

Die Geschichte der Feierlichkeit ist schnell erzählt: Man sagt, dass vor 35‘000 All-Momenten (rund 2000 Erdenjahren) ein Baby mit speziellen Fähigkeiten geboren wurde. Angefangen hätten die Wunder schon damit, dass dieses Wesen in den Körper seiner Mutter gelangt sei, ohne vom Männchen dort platziert worden zu sein. (Randnotiz: Die Menschen sowie die meisten Tiere auf der Erde pflanzen sich durch eine komplexe biochemische Reaktion fort, die durch die Vereinigung von Männchen und Weibchen ausgelöst wird – siehe dazu auch Funkspruch #4.)

Die Bewohner des blauen Balls haben bis heute keine Kenntnis ihrer eigenen Heilkompetenz.

Praktisch von Geburt an, sagt die Legende, besaß das Baby übermenschliche Kräfte, die mit zunehmendem Alter immer ausgeprägter wurden. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu verstehen, warum diese Figur derart verehrt wird – bis ich gemerkt habe, dass die durchschnittlichen menschlichen Fähigkeiten Lichtjahre hinter dem universalen Standard zurückliegen. Es ist zum Beispiel die Rede von der Heilung kranker Menschen, wobei man sich damals manche Krankheiten als übelgesinnte Wesen vorstellte, die Körper und Seele besetzen – so genannte Dämonen.

Nun, zweitausend Jahre später hört man zwar nicht mehr viel von so genannten Wunderheilungen, sucht aber im Krankheitsfall immer noch den Rat von eigens dafür ausgebildeten «Experten». Will heißen: Die Bewohner des blauen Balls haben bis heute keine Kenntnis ihrer eigenen Heilkompetenz, und deren Ausbildung wird mit allen Mitteln unterbunden. (Recherchieren: Auf welche Kenntnisse und Fähigkeiten fokussiert die Bildung der Erd-Kinder? Werden grundlegende Bereiche wie das Selbstheilungs-Training aus Unwissenheit ausgeschlossen oder steckt Absicht dahinter?)

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Zurück zu Jesus, wie der Mann aus der Legende genannt wird. Man glaubt, dass er seine Fähigkeiten direkt von einem obersten spirituellen Wesen erhielt, das überall auf der Welt einen anderen Namen hat, auch wenn es dasselbe bezeichnet. Im Grunde handelt es sich dabei um das, was im restlichen Universum als ∞⌋⌋ bezeichnet wird: die Gesamtenergie des Kosmos. Die Menschen scheinen jedoch die Existenz eines allumfassenden, in sich pulsierenden Seins, in welchem alles aufgeht, nicht erfassen zu können. Ähnlich wie unsere Vorvorvorvorvorvorvorvorfahren beschreiben sie das ∞⌋⌋ daher als Wesen, das zwar unendlich größer, mächtiger und intelligenter ist als sie, ihnen aber doch irgendwie ähnelt: Gott, Dios, Allah, Shangdi, Xwedê.

Tatsächlich hält sich bei einem Teil der Erdbewohner der Glaube, dass dieser Gott wie ein Mensch denkt, hört, redet, Entscheidungen trifft, einen auf die Probe stellt und einzelne Personen je nach Gutdünken belohnt oder bestraft. Um mit ihm in Kontakt zu treten, wurden daher nicht nur hunderttausende von Gebäuden errichtet, in denen über und mit Gott gesprochen wird. Es wurden auch Experten ernannt, die angeblich besonders gut darin sind, seine Forderungen zu verstehen und zu übersetzen. (Recherchieren: Ernennen die Erdbewohner auch in anderen Bereichen ihre sogenannten Experten, statt die ganze Bevölkerung zur Selbstsubsistenz anzuleiten?)

Die Menschen gehen davon aus, dass Gott die Elemente in einem manuellen Prozess hergestellt hat.

Die Vorstellung, dass ∞⌋⌋ unfassbar, unbenennbar und unbeeinflussbar ist, überfordert die Erdbewohner so sehr, dass sie sogar Kriege führen und einander massenweise umbringen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass ihre Vorstellung von «Gott» die einzig adäquate ist. Und dies, obwohl sich alle Interpretationsversuche zum Verwechseln ähnlich sehen – zumindest von außen.

Doch es wird noch skurriler: Die Wesen und Energieballungen, die den Erdbewohnern das Leben auf dem blauen Planeten überhaupt erst ermöglichen, gelten nur als respektabel, weil «Gott» sie angeblich «geschaffen» hat. Und dies ist wörtlich gemeint: Die Menschen sprechen nicht von der organischen Entstehung von Sonne, Luft und Gewässern aus dem unendlichen Oszillieren des ∞⌋⌋ heraus, sondern gehen davon aus, dass «Gott» die Elemente in einem manuellen Prozess hergestellt hat – etwa wie sie selbst Häuser oder Maschinen bauen. Manche glauben sogar, dass sie in grauer Vorzeit selbst von Gott zusammengesetzt und zum Leben erweckt worden sind.

Mir wird ganz schwindlig, wenn ich über all diese Geschichten nachdenke, die mir selbst für Menschenlogik viel zu kompliziert erscheinen, um eine so simple und grundlegende Energie wie das ∞⌋⌋ zu erklären. Im Übrigen: Während der Weihnachtszeit werden zwar allerorts Ruhe und Besinnlichkeit heraufbeschworen, sicht- und hörbar ist jedoch vor allem viel Bling-Bling. Noch nie habe ich den blauen Ball so hektisch leuchtend, blinkend und wuselnd gesehen. Ich merke: Auch nach einem Erdenjahr verstehe ich die menschliche Grundenergie noch immer viel zu wenig. Ich beantrage die Verlängerung meines Forschungsauftrages. ♦

Aufgezeichnet von Nicole Maron

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